Lenz, Siegfried
nein, so wie er bewegt sich einer mit schlechtem Gewissen, er hat etwas vor, das er selbst nicht entschuldigen kann, ich kenne doch Max. So also lebst du, Bruno, gemütlich hast du es; das sagt er mit gespaltenem Interesse und geht herum und beklopft die Sessellehne, begutachtet die Aussicht, setzt sich auf den einzigen Hocker. Wie eilig er alles mustert, eilig und kalt; da kann er noch so gelassen tun, ich merke ihm an, daß er nach etwas fahndet, das er bei mir zu finden hofft, ich spüre, daß er am liebsten die Schubfächer meiner Kommode aufziehen und die dunkelblaue Truhe inspizieren möchte, die Dorothea mir geschenkt hat zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag. Praktisch findet er das Gestell mit dem Vorhang, hinter dem meine Sachen hängen und die Schuhe und die Gummistiefel stehen, und die kleine Uhr in ihrem Marmorgehäuse gefällt ihm so sehr, daß er sie vom Fensterbrett herabnimmt. Nein, eine Reparatur lohnt sich nicht. Ob ich denn keine Taschenuhr habe, will er wissen, eine Uhr mit Sprungdeckel zum Beispiel. Nein, nein.
Er schüttelt den Kopf, weniger über mich als über sich selbst, er bereut wohl die Frage, er bereut es vermutlich überhaupt, zu mir gekommen zu sein. Endlich hat er sein Buch entdeckt, das einzige Buch, das bei mir liegt und das wie durch ein Wunder nicht verlorenging, sein Erstling, in den er hineingeschrieben hat: Bruno, dem geduldigsten Zuhörer, zur Erinnerung an gemeinsame Jahre. Mit traurigem Lächeln liest er die alte Widmung, sieht mich an und nickt, gerade so, als sei er immer noch einverstanden mit den Worten von damals. Vieles ist geschehen, sagt er, mit dem Buch, mit mir, mit meiner »Theorie des Eigentums«; na, du weißt ja. Er blättert in dem Buch, das er mir geschenkt hat; ich hab es schon fünfmal gelesen, und jedesmal hatte ich das Gefühl, in ein Loch zu fallen, in ein Loch mit glatten Wänden. Ja, schon fünfmal, aber ich werde es bestimmt noch ein sechstes Mal lesen, sage ich, und er legt das Buch an seinen Platz und steht auf und seufzt und weiß nicht, wie er sich einleiten soll.
Bruno? Ja? Du gehörst doch zu uns, Bruno, sagt er, du hast doch so lange mit uns gelebt, denk nur mal an die vergangene Zeit und an alles, was du dem Chef zu verdanken hast. Er bedenkt sich, verschränkt seine Finger, und ich merke, wie schwer es ihm fällt, weiterzusprechen. Ist der Chef krank? frage ich. Er antwortet mir nicht, dringend sieht er mich an, flüstert: Nur du, Bruno, du bist der einzige, den ich ins Vertrauen ziehen kann, du sollst wissen, daß sie sich Sorgen machen in der Festung. Um den Chef? frage ich. Sie vermissen dort einiges, sagt er, persönliche Dinge, wertvolle Dinge, sie sind einfach abhanden gekommen. Gestohlen? frage ich. Nein, sagt er, nicht gestohlen, Bruno, zumindest glauben sie es nicht; sie vermuten, daß es sich hier irgendwo befindet, hier in Hollenhusen. Ich soll die Augen offenhalten, sagt er, ich soll herumgehen und herausfinden, ob einer etwas hat, was ihm nicht zukommt, und jeden auffälligen oder verdächtigen Besitz soll ich sogleich melden, ihm, Max, der mich ins Vertrauen gezogen hat. Ja, sage ich. Vergiß nicht, sagt er, du bist einer von uns, wir müssen zusammenhalten, wir dürfen es nicht zulassen, daß alles sich auflöst und abhanden kommt; doch das wichtigste ist erst einmal Schweigen. Er gibt mir die Hand, und ich bin traurig, weil er traurig ist. Wie lange er meine Hand in der seinen hält, wie aufmerksam er in meinen Augen forscht, nicht anders, als ob er mir noch mehr vertrauen möchte, sich aber zunächst vergewissern muß, daß es bei mir gut aufgehoben ist. Weißt du, Bruno, fragt er, wie lange du schon meinen Vater Chef nennst? Von Anfang an, sage ich, weil alle ihn Chef nannten, habe ich ihn auch so genannt, von Anfang an und immer. Der Chef hat viel für uns getan, sagt er, doch wie es aussieht, müssen wir nun etwas für ihn tun.
Er geht mit gesenktem Gesicht, und ich kann ihm nicht nachsehen, in meinem Kopf schwirrt es wie von Junikäfern, erst einmal muß ich mich hinsetzen und warten, bis es still wird, bis ich alles ordnen und sortieren kann. Wenn ich noch den grünen Flaschenboden hätte, könnte ich mich gleich auf die Suche nach dem Verschwundenen machen, mit dem sandgeschliffenen Glas, das lange im Meer gelegen hat, könnte ich auch bestimmt einiges wiederfinden, ich brauchte nur den aufblitzenden Pfeilen zu folgen, die sich immer im Inneren zeigten, doch ein Schrotschuß von Joachim hat dem hilfreichen Glas ein
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