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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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war neben dem Imbissladen angebunden worden, ein gesundes Tier mit einem schwarzen Fleck auf der Stirn, der wieein Komet geformt war. Sie war gerade gemolken worden, und ein Mann im
dhoti
und mit nacktem Oberkörper trug einen schimmeligen Eimer weg, in dem die frische Milch wie eine radioaktive Flüssigkeit aussah. Neben der Kuh hockte eine Frau im safrangelben Sari, die Mehlbrei zu Bällchen formte. Neben ihr badete eine andere Frau gerade zwei Kinder. Ein halbes Dorf befand sich in einer Spalte im Gehsteig. Die Kuh kaute Gras und Jackfruchtschalen. Dickbäuchig und großäugig, strotzend vor Gesundheit, atmete sie Diesel und Abgase, Feinstaub und Schwefeldioxid ein, wirbelte sie in ihren vier Mägen durcheinander und machte gute Milch aus schlechter Luft und bakterienverseuchtem Wasser. Von so viel erschreckend guter Gesundheit angezogen, legte der alte Mann ihr die Hand auf den kotverkrusteten Bauch. Die Schwingungen der tierischen Eingeweide übertrugen sich auf ihn und sagten: Diese ganze Kraft in mir steckt auch in dir.
    Ich habe anderen Gutes getan. Ich war vierunddreißig Jahre lang Lehrer.
    Die Kuh hob den Schwanz. Kuhfladen häuften sich auf der Straße. Wenn sie sahen, wie Masterji mit der Kuh redete und ihr sein Leid klagte, glaubten jene, die in der Stadt geboren waren, vielleicht, dass er ein verrückter alter Mann war, aber die, die vom Land kamen, wussten es besser; die Frau im safrangelben Sari verstand die Frömmigkeit, die darin lag, und stand auf. Die beiden Kinder folgten ihr. Bald war die Stirn der Kuh von menschlichen Händen bedeckt.
    Giri deckte den Abendbrottisch. Weißer Reis, Spinatcurry, Bohnencurry und
papadams,
knusprige Fladen aus Linsenmehl, umgaben eine
hilsa,
eine Alse, die, gebraten und klein gehackt, mit Salz und Pfeffer abgeschmeckt, in einer Porzellanschüssel serviert wurde. Der Kopf des Fisches thronte mit geöffnetem Maul obenauf, als schnappte er zwischen den eigenen Körperteilen nach Luft.
    Beim Anblick des Fisches lief Shah das Wasser im Mund zusammen. Er ging in seiner Wohnung in Malabar Hill um den Esstisch herum und hatte ein Seidentaschentuch in der Hand, das Rosie ihm gekauft hatte, einer jener kleinen Beträge, die sie ihm von seinem eigenen Geld wiedergab, parfümiert und in Damast verpackt. Er rieb es zwischen den Fingern.
    Er ging in der Wohnung hin und her, seit Shanmugham aus der Kanzlei des Anwalts zurückgekehrt war und die schlechten Neuigkeiten ausgeschwitzt hatte.
    Frische Luft, er ging ans Fenster. Draußen suchte ein zerlumpter Mann in der Gosse vor seinem Wohnhaus nach leeren Flaschen.
    Selbst dort unten entdeckte Shah den Wunsch nach mehr. Würde man diesem Bettler mit seinem Jutesack die Geschichte, wie sie sich bislang zugetragen hatte, erzählen, er wäre über diesen alten Lehrer entsetzt. Ein Mann, der nichts will, einer, der keine verborgenen Winkel in seinem Herzen hat, in die man noch ein bisschen mehr Geld stopfen könnte, was für ein Mann ist das denn?
    «Ich habe schon alle möglichen Verhandlungstaktiken erlebt, Giri. Ich kann sie sogar in eine Reihenfolge bringen. Man sagt, man ist krank. Blind. Man vermisst seinen geliebten Hund Timmy oder Tommy, der in dieser Wohnung mit einem gelebt hat. Aber diese Taktik, immer nur ‹Nein› zu sagen, die kenne ich noch nicht.»
    «Ja, Boss», sagte Giri. «Wollen Sie jetzt essen?»
    «Wir haben es mit der gefährlichsten Sache der Welt zu tun, Giri. Mit einem schwachen Mann. Einem schwachen Mann, der einen Platz gefunden hat, an dem er sich stark fühlt. Er wird Vishram nicht verlassen. Das wird mir jetzt klar.»
    Giri berührte seinen Herrn.
    «Setzen Sie sich. Oder die
hilsa
wird kalt, und wofür hat sich Giri dann die ganze Mühe gemacht?»
    Shah betrachtete den Fisch, und er sah den alten Lehrer vor sich, der auf die gleiche Weise geschnitten und gehackt, gesalzen und gepfeffert vor ihm in der Porzellanschüssel auf dem Esstisch stand. Ihn schauderte, und wieder rieb er die Seide zwischen seinen Fingern.
    Bisher hatte Shanmugham bloß einen Burschen mit einem Hockeyschläger zu diesem alten Mann geschickt – Mr Pinto –, damit er mit ihm redete. Das war nichts Kriminelles. Er hatte die Vishram Society lediglich mit der Realität konfrontiert. Er hatte gedacht, das würde reichen, dieser Gruß aus dem wahren Leben an ein Haus voller alter Leute. Herdentiere.
    Jetzt wartete Shanmugham im Erdgeschoss auf neue Anweisungen. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Shanmugham vor dem Rückspiegel

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