Letzter Mann im Turm - Roman
sich ans Ohr. Erleichtert atmete er auf.
Gaurav.
«Gute Neuigkeiten, Vater. Ich habe Noronha erreicht. Mein Bekannter hat mich zu ihm durchgestellt. Ich habe ihm die Situation beschrieben, die Drohungen, die Anrufe, die Attacke auf Mr Pinto –»
Masterji war so aufgeregt, dass er den Hörer von einem Ohr zum anderen wechselte.
«Und vom Betrug des Rechtsanwalts heute? Das hast du doch nicht ausgelassen?»
«Das habe ich auch erwähnt, Vater. Noronha wird sich mit uns treffen.»
«Wunderbar. Wunderbar.»
«Vater, Noronha wird uns nur zuhören. Er kann nichts versprechen.»
«Ich verstehe», sagte Masterji. «Verstehe ich völlig. Ich möchte nur die Möglichkeit haben, diesem Mr Shah Kontra zu geben. Momentan steht es 100 : 0 für ihn. Ich will ihm einfach einen ordentlichen Schlag in die Magengrube versetzen. Das ist alles, was ich von Noronha möchte.»
«Er trifft sich morgen um 17 Uhr mit uns in der Redaktion der
Times of India.
Kannst du dich mit ihm in der Eingangshalle verabreden? Ja, ich komme direkt von der Arbeit zum Victoria Terminus.»
«Danke, mein Junge. Am Schluss bleibt einem nur die Familie, auf wen sonst kann man sich verlassen? Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann. Bis morgen.»
Masterji lag im Bett und strampelte wie ein kleiner Junge mit den Beinen.
In Malabar Hill hatte Giri die Küche sauber gemacht; er drehte das Gas ab, öffnete die Post und sortierte die Briefe. Ehe er ging, musste er noch die Unterschrift seines Arbeitgebers fälschen.
Giri holte seine Gleitsichtbrille aus Schildpatt heraus, ein Geschenk seines Herrn zum 50. Geburtstag, und setzte sich an den Tisch; hinter ihm hing das Poster mit den Bauphasen des Eiffelturms. Er schaltete die Schreibtischlampe an und öffnete die zweite Schublade, in der sich die Scheckbücher befanden. Giris Unterschrift, die die seines Herrn aus dem Jahre 1978 exakt imitierte, war beträchtlich echter als die Shahs selbst, die sich im Laufe der Jahre verändert hatte. Aus diesem Grund hatte ihn Shah seit Langem mit der Begleichung der monatlichen Rechnungen betraut. Giri nahm eine nach der anderen aus einer blauen Mappe. Die Stromrechnung. Die monatlichen Betriebskosten der Wohnungsgenossenschaft. Ein freiwilliger Beitrag von fünftausend Rupien für die Installation von Wasserauffangtanks im Gebäude.
«Freiwillig.» Giri schnaubte. Das hieß doch im Klartext, dass man dann Geld gab, wenn man wollte. Er zerknüllte das Papier und warf es in den Papierkorb.
Dann prüfte er die Kreditkartenabrechnung seines Herrn, ehe er einen Scheck zur Begleichung ausstellte. Er nahm sich die nächste Kreditkartenabrechnung vor und stellte einen zweiten Scheck für die «Versova-Person» aus, die mit einer genaueren Angabe zu ehren er sich weigerte.
Er schaltete die Schreibtischlampe aus.
Beinahe 21 Uhr. Er hatte noch eine Stunde Zugfahrt nach Borivali vor sich, wo er mit seiner Mutter in einer Zweizimmerwohnung lebte. In der Küche tauschte Giri seinen blauen
lungi
gegen eine braune Polyesterhose und streifte ein weißes Hemd über sein
banian.
Satish hatte sein Zimmer verlassen. Giri zog die Laken glatt.
Mr Shah lag im Bett und hatte die Arme um dieses Gipsmodell geschlungen, das all die Wochen neben der Nataraja-Figur gestanden hatte. Giri versuchte, ihm das Modell aus den Armen zu lösen, und gab auf.
Er machte in der Wohnung die Lampen aus, öffnete die Tür und stieß auf Shanmugham, der die Arme verschränkt hatte.
«Wann wird mir der Boss eine Antwort geben?», fragte die linke Hand. «Wenn wir dem alten Lehrer die Arme und Beine brechen wollen, dann müssen wir das jetzt tun.»
3. SEPTEMBER
Es war noch nicht 16 Uhr.
Masterji blieb am Flora Fountain stehen, um sich das Gesicht mit einem Taschentuch abzuwischen; Wasser rieselte über den alten fleckigen Marmor, über die Götter und Bäume und den Schweinswal.
Er lief an der Bronzestatue von Dadabhai Naoroji vorbei und ging unter den schattigen Arkaden mehrerer Häuser entlang zur Redaktion der
Times of India.
Er blickte dauernd über die Schulter zurück, weil er fast erwartete, dass Shanmugham ihm folgte, und sah deshalb den Bahnhof erst, als er direkt vor ihm stand.
Victoria Terminus.
Es war schon Jahre her, dass er den großen Hauptbahnhof gesehen hatte, das großartigste neogotische Gebäude der Stadt. Dämonen, Kuppeln, Giebel und Wasserspeier wuchsen überall aus dieser verrückten bunten Steinmasse. Steinerne Mastiffs flatterten aus der Hauptkuppel; Widder, Wölfe,
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