Letzter Mann im Turm - Roman
Pfauen, anderes namenloses Schreckgetier ragten aus dem Bahnhofsgebäude hervor und schrien lautlos über den Verkehrslärm und das allgemeine Durcheinander hinweg. Und um den ganzen Wahnsinn komplett zu machen, fächelte ein heidnisches, wollüstiges Palmenspalier dem Gebäude zu, Schabernack treibende Bäume, die die Wasserspeier neckten und beinahe kitzelten.
Das Herz Bombays – falls es eines gibt –, das bin ich, das bin ich!
Das Gebäude der
Times of India
lag gleich um die Ecke; er hatte noch eine Stunde Zeit. Er überquerte die Straße. In der kühlen Bahnhofshalle sah er Steinwölfe, die auf den Säulenkapitellen hockten, als wollten sie sich gleich auf die Menschen darunterstürzen. An einer der Säulen klebte ein Plakat; ein Junge war in der Stadt verschwunden wie ein echtes Opfer der imaginären Wölfe dieses Gebäudes. Die Schrift, in Hindi, war verwischt, und er konnte sie nur mit Mühe lesen, dachte an die einsamen Eltern, die nach diesem Jungen suchten und die gleichgültige Polizei um Informationen anflehten, bis sie erschöpft und am Boden zerstört mit dem Zug nach Bhopal oder Ranchi zurückfuhren.
Auch er war einst einer dieser Zuwanderer gewesen, die durch das Bahnhofsportal in die Stadt strömten, Männer und Frauen aus Bihar und Uttar Pradesh, die ihre gesamte Habe in Stoffbündeln mit sich schleppten. Sie traten aus dem Schatten der Steinwölfe und blinzelten im harten Licht Mumbais. Aber in ihren Bündeln fehlte, was in seinem gewesen war: Bildung. Wie viele von ihnen würden wie der Junge auf dem Plakat enden? Geschlagen, entführt oder ermordet? Sein Herz füllte sich mit Mitleid für ihre unbedeutenderen Nöte.
«Point! Point! Point!»
Die Taxifahrer vor dem Bahnhof bestanden darauf, ihn nach Nariman Point zu bringen. Er schüttelte den Kopf, aber das Geschrei hielt an. Er konnte ihre Willenskraft beinahe körperlich spüren, ein Rammbock, der seine eigene zermalmen wollte.
Er betrat die Eingangshalle der
Times of India
und sah sich einem riesigen Wandgemälde gegenüber, Jawaharlal Nehru und Indira Gandhi, die die
Times of India
überflogen. Er setzte sich hin und wartete. Noch eine halbe Stunde. Menschen strömten in die Eingangshalle und verließen sie wieder.
Wie viele von ihnen,
fragte er sich,
kamen, um mit Noronha zu sprechen?
Er fühlte den vertrauten Stolz auf einen erfolgreichen Schüler, der wie ein Wachstumshormon wirkt, das einen Schössling aufrichtet und einen alten Lehrer auf weitere Lebensjahre hoffen lässt.
Er begann zu dösen. Als er die Augen öffnete, erblickte er Gaurav in blauem Hemd mit Krawatte und Bundfaltenhosen, der ihn an der Schulter schüttelte.
«Tut mir leid, mein Junge. Ich war müde.» Masterji stand auf. «Sollen wir jetzt zu Noronha reingehen?»
Die Worte lagen Gaurav schon auf der Zunge.
Ich. Habe. Noronha. Nicht. Angerufen. Ich. Habe. Ihn. Nicht. Angerufen.
Aber als sie schließlich herauskamen, wurde aus ihnen: «Ja. Aber ich möchte zuerst etwas essen, Vater.»
«Aber was ist mit unserem Termin?»
«Wir haben Zeit, Vater, viel Zeit. Ich habe jetzt Hunger.»
Vater und Sohn gingen zum McDonald’s gegenüber Victoria Terminus. Masterji setzte sich draußen an einen der Tische und wartete darauf, dass Gaurav mit seinem Essen auftauchte. Er wünschte, er hätte seinen Zauberwürfel dabei. Jemand hatte auf dem Tisch einen Reklamezettel liegen lassen.
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Er drehte den Zettel um, malte mit einem blauen Kugelschreiber auf der Rückseite herum, und dann überschrieb er das Gekritzel:
Polizei
Medien
Recht und Gesetz
Sozialarbeiter
Familie
Schüler und Ehemalige
Dann strich er «Recht und Gesetz», «Sozialarbeiter» und «Polizei» durch.
Gaurav kam mit einem Eis mit Schokoladensauce aus dem Restaurant. Er bearbeitete es gierig mit einem Plastiklöffel.
Bei seinem Sohn zu Hause sprach Masterji Hindi, damit Sonalfolgen konnte, jetzt wechselte er zu einem Mischmasch aus Englisch und Kannada, der Sprache ihrer Vorfahren.
«Wann sagte Noronha noch, dass er sich mit uns treffen will, mein Junge?»
Gaurav schluckte hastig einen Mund voll Eis in einer beinahe gleichzeitigen Kontraktion von Lunge und Speiseröhre.
«Er trifft sich nicht mit uns. Dein Noronha.»
«Wie meinst du das?»
Gaurav kniff ein Auge zu und grub seine Zunge in den Schokoladenmatsch, der sich unter der dahinschwindenden Vanille befand.
«Für seine Zeitung ist
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