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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Du denkst, dass dein geliebter
Noronha
dich empfangen wird? Hat er auf deine Briefe oder Anrufe reagiert? Er war es schließlich, der dir in der Schule die ganzen Spitznamen verpasst hat. Aber bevor du gehst, will ich dir noch einen Ratschlag geben. Lass mich ein einziges Mal dein Lehrer sein, Vater.»
    (Warum sagen das bloß alle?,
fragte sich Masterji.)
    «Weißt du, mit wem du es hier zu tun hast, Vater? Mit dem Baugewerbe. Das ist die Mafia. Tante Sangeeta hat mir erzählt, dass du in deinem Naturwissenschaftsunterricht gern über Gezeiten und Meteore redest. Kümmere dich lieber um Messer, Vater, statt um das Meer. Hast du denn nicht die großen Plakate neben den Baustellen gesehen? ‹Swimmingpool, Fitnessraum, Fernseher, Hochzeitssaal, Klimaanlage – alles für Sie.› Wenn man solche Träume verkauft, kann man umbringen, wen man will. Der Stichtag ist in ein paar Tagen. Wenn du weiterhin Nein zu Mr Shah sagst, werden wir dich eines Morgens in der Gosse finden. Du. Stehst. Ganz. Allein. Da.» Gaurav stand auf. «Ich muss jetzt zurück zur Arbeit. Wir können uns bei der Bank keine langen Pausen erlauben, sonst steht das in unserem nächsten Leistungsbericht.»
    Masterji las die Worte, die er auf das Stück Papier geschrieben hatte.
    Medien
Recht und Ordnung
Sozialarbeiter
    Das Papier flatterte auf die belebte Straße.
    Er verließ den McDonald’s und stand vor Victoria Terminus.
    Hoch oben auf dem Gebäude beobachtete ihn ein Wasserspeier, streckte ihm die Zunge heraus und sagte: «Ich habe Schüler in einflussreichen Positionen.» Er wandte die Augen ab. Ein anderer Wasserspeier grinste: «Ich rechne mir Noronhas Karriere nicht als Verdienst an.» Und ein dritter höhnte: «Ein Lehrer hat so seine Verbindungen.»
    Dann wurde die gesamte steinerne Masse des Bahnhofs weggeblasen; eine Hupe ertönte nur wenige Zentimeter von MasterjisOhren entfernt. Mitglieder einer Kapelle, die Feierabend hatte, kamen auf dem Gehsteig direkt auf ihn zu; der Mann mit der Tuba gab hin und wieder einen kurzen Warnlaut ab, damit die Menschen ihnen aus dem Weg gingen. Sie trugen rote Hemden mit goldenen Schulterklappen und weiße, mit einem schwarzen Streifen an der äußeren Beinnaht versehene Hosen, die sie in ausgetretene Stiefel gestopft hatten. Plötzlich befand sich Masterji mitten unter ihnen und ihren glänzenden Instrumenten; angelockt von den Tubastößen, folgte er ihnen. Die Hemden der Musiker waren voller Schweißflecken, ihre Körper schlaff. Er ging hinter dem Mann mit der Tuba her, starrte in ihre weite Öffnung und zählte die Dellen und Kerben im Blech.
    Vielleicht hatten die Musiker gemerkt, dass er sich unter sie gemischt hatte, und bogen deshalb am Crawford Market plötzlich nach rechts ab, um ihn loszuwerden. Masterji ging weiter geradeaus, wie ein Tier, das am Halsband vorwärtsgezerrt wird. Sein Körper wurde vom Gesetz der Trägheit beherrscht, aber über seinen Hals und seine Augen hatte er noch volle Kontrolle; er registrierte, dass die Uhr am Turm des Crawford Market kaputt war. Der Gehsteig verdunkelte sich. Jetzt war er auf der Mohammad Ali Road. In der dunklen Schlucht aus Beton und alten Steinen verstärkte sich der Verkehrslärm. Mächtige Gebäude auf beiden Seiten ließen kaum Licht durch, und der auf Pfeilern ruhende J. J. Flyover, dessen gerippter Leib sich wie ein jagdbereiter Alligator wand und drehte, warf seinen Schatten auf die Straße darunter.
    Etwas berührte ihn von links.
    Aus einer Gasse waren drei Ziegen getrippelt, und eine von ihnen rieb sich an seinem linken Bein.
    Tagelöhner schliefen auf dem Gehsteig und nahmen die vorbeigehenden Füße nicht wahr. Die Holzkarren, die sie den ganzen Tag lang gezogen hatten, standen neben ihnen; unter einem ragten Hundepfoten hervor, als ruhte der Karren seine Tierbeine in der Abendkühle aus. Ein alter Mann saß neben Zeitungsstapeln, diemit Steinen beschwert waren; jeder Stein sah wie die Kristallisation einer in der Presse verkündeten harten Wahrheit aus. Masterji blieb stehen, um die Überschriften zu lesen.
    Sie haben einen aus der Stadtverwaltung erschossen. Es stand in der Zeitung.
    Ihm fiel ein, dass der Bhindi-Bazar gleich um die Ecke lag, eine der Gegenden, in der die Mafia ihre Handlanger rekrutierte. Jeder dieser unrasierten Männer am Straßenrand, die außer Teetrinken nichts zu tun hatten, würden die Aufgabe für Mr Shah erledigen. Ein Messer würde sich ihm in den Hals bohren. Schlimmer noch, seine Knie würden zerschmettert

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