Letzter Mann im Turm - Roman
werden. Er könnte zum Krüppel werden. Man könnte ihn blenden.
Schweißperlen liefen ihm vom Hals den ganzen Rücken hinunter.
Hatte Gaurav nicht recht? War es nicht bloß sein Stolz, der ihn daran hinderte, zu Mr Shah zu gehen und zu sagen: «Ich nehme Ihr Angebot an. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe.»
Von den Kebab-Holzkohlegrills, die vor den Billiglokalen standen, die die gesamte Mohammad Ali Road säumten, wehte ihm der Rauch entgegen. Masterji nahm Kurs auf ein Lokal, das so dreckig war, dass er seine Eine-Ratte-Regel bereits gebrochen hatte, noch ehe er es betreten hatte. Eine kleine Gestalt, die vor der Tür kauerte, zog die Beine an, um ihn hineinzulassen.
Er setzte sich auf eine der langen Bänke; Arbeiter warteten dort auf Tee, Brot und Kekse, die auf nassen, schmutzigen Tellern serviert wurden.
«Was?», fragte der Kellner und knallte, als wollte er ihn sauber machen, einen schmutzigen roten Lappen auf den Tisch.
«Tee. Und jede Menge Zucker rein. Verstanden?»
«Jede Menge Zucker», sagte der Kellner. Er grinste.
Er kam mit einem Glas Tee und einer Packung Milchkekse zurück. Er stand am Tischende, riss das Paket auf und ließ die Kekse
klank, klank, klank
auf einen Edelstahlteller fallen.
Der andere Kunde an diesem Tisch, Masterji bemerkte ihn erst jetzt, war ein hagerer Mann mittleren Alters in einem dreckigen blauen Hemd, der wegen seines Bartes wie ein Moslem aussah. Masterji nahm an, dass er zu jenen gehörte, die auf der Straße ihre Karren gezogen hatten. Er meinte sogar den Holzkarren des Mannes ausfindig machen zu können, der gegen die Tür des Cafés gelehnt war. Der Arbeiter nahm einen Keks vom Teller und kaute. Als er damit fertig war, atmete er durch, nahm einen zweiten Keks und kaute. Jede Bewegung seines knochigen Kiefers zeugte von tiefer Müdigkeit, der Dauermüdigkeit von Menschen, die bei der Arbeit keinen haben, der sich um sie kümmert, und nach der Arbeit auch nicht. Der dürre Körper strahlte das Schweigen eines wilden Tieres aus. Mittleren Alters? Nein. Sein Haar wurde zwar an den Schläfen grau, aber die Jugend war erst vor Kurzem aus seinem Gesicht vertrieben worden. Siebenundzwanzig, höchstens achtundzwanzig. Masterji beobachtete den jungen Mann mit den eingesunkenen, bestürzten Augen, der kaum noch genug Kraft hatte, um einen Milchkeks in die Hand zu nehmen.
Das ist sein Leben. Den Karren ziehen und dann hier diese Kekse essen,
dachte er.
Der müde Moslem erwiderte Masterjis Blick. Ihre Blicke begegneten sich wie fremde Sprachen, und schließlich sprach der Arbeiter, ohne seine Lippen zu bewegen.
Ist Ihnen nie aufgefallen, wie viele Menschen ganz allein auf sich gestellt sind?
Beim Verlassen des Cafés hielt Masterji dem Kellner einen Fünfrupienschein hin und deutete auf den Teller mit den Keksen, die immer noch, einer nach dem anderen, langsam verzehrt wurden.
Draußen fuhr ein Auto mit einem riesigen Plastik-Red-Bull obendrauf die Straße entlang. Die Reklamefigur war neonbeleuchtet, und aus ihrem Maul plärrte ein beliebter Hindi-Song, während das Auto immer wieder anhielt, damit gratis Red-Bull-Dosen an die Zuschauer verteilt werden konnten. Der Rhythmus des Liedes übertrug sich auf Masterji. Er war sich bisher nur bewusst gewesen,
gegen
jemanden zu kämpfen. Jetzt hatte er dasGefühl,
für
jemanden zu kämpfen. In diesem dunklen, schmutzigen Tal unter der Betonüberführung schufteten halb nackte Arbeiter und legten sich, beinahe ohne jede Hoffnung auf ein besseres Leben, ins Zeug. Dennoch legten sie sich ins Zeug – sie kämpften. So wie Mary darum kämpfte, ihre Hütte am
nala
zu behalten. Und in ganz Vakola kämpften Dienstmädchen wie sie um ihre Hütten.
Lichtstreifen fielen zwischen den Gebäuden auf die Straße, und die Menschen versammelten sich dort, als wären dies die einzigen Stellen, an denen man den Verkehr durchqueren konnte. Die schuftenden Arbeiter sahen in diesem Licht wie Symbole aus: Hieroglyphen einer Zukunft, einer gewaltigen Zukunft. Masterji blickte in das Licht hinter den Gebäuden. Es sah aus wie ein anderes Bombay, das darauf wartete, geboren zu werden.
Er wusste, dass Ronak in diesem neuen Bombay einen Platz hatte. Mary und alle anderen Dienstmädchen hatten einen Platz darin. Jeder dieser einsamen, verlorenen, gebrochenen Menschen um ihn herum hatte einen Platz darin.
Aber vorerst mussten sie alle darum kämpfen.
Wieder hörte er die Tuba; die Blaskapelle hatte kehrtgemacht, als hätte sie sich verlaufen, und
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