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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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marschierte wieder zum Victoria Terminus und grüßte die Scharen der neuen Zuwanderer mit ihrem Geschmetter. Masterji lief hinter der Kapelle auf Victoria Terminus zu und hatte zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau das Gefühl, dass er nicht allein war.

4. SEPTEMBER
    Oval Maidan bei Sonnenuntergang.
    Überall Staub, und die Sonne veranstaltete wundersame Dinge mit dem Staub; sie verwandelte ihn in eine goldene Wolke, in der die neogotischen Häuser, das vertrocknete Grün der Palmwedel und das lebendige Menschenbraun miteinander verschmolzen.
    Wenn man am Maidan vorbeifuhr, teilten die Zaunstangen die Kricketspiele in große rechteckige Felder, wie Filmstreifen, die man zur Begutachtung an einer Wand aufgehängt hat.
    «Geht’s dir besser, Onkel?»
    «Du bist ein gutes Mädchen, Rosie. Ein gutes Mädchen, dass du ins Krankenhaus gekommen bist.»
    Shah lehnte den Kopf an Rosie; der Fahrer, der sie beide vom Breach Candy Hospital abgeholt hatte (während man ihn röntgte, hatte Rosie im Wartezimmer in der
Filmfare
geblättert), fuhr nun langsam um das Stadtzentrum, das Herz der Stadt, herum.
    «Ich weiß, woran du denkst, Mr Confidence.»
    «Woran denn?»
    «An Geld. Das ist das Einzige, woran du denkst.»
    Ihre Finger schoben sich in seine Tasche.
    «Dein Handy klingelt, Onkel.»
    «Lass es klingeln.»
    «Du hast fünfzehn neue Anrufe.»
    «Dann ist das der sechzehnte. Meine Arbeit ist mir egal. Mir ist alles egal.»
    «Warum redest du denn so, Mr Confidence?» Sie lächelte ihn an.
    Mein Shanghai,
dachte Shah. Vorbei. Alles wegen eines alten Lehrers.
    Es war, als hätte ihm eine Hand in den Bauch gegriffen und seinen Atem operativ entfernt.
    Im Rückspiegel sah er seine geschwärzten Zähne und dachte:
Bei Weitem nicht genug.
Weder die beschädigten Zähne, noch die Krankheit in seiner Brust, noch das Blut, das er spuckte, waren Strafe genug. Für die Sünde, bloßes Mittelmaß zu sein. Die einzig echte Sünde auf Erden. Er hätte in Krishnapur bleiben und die Kuhscheiße aus dem Familienstall schaufeln sollen. Finger strichen ihm durchs Haar, er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht.
    «To-re-ro. To-re-ro.»
    «Lass mich in Ruhe, Rosie.»
    Sie nahm ihm den blauen Umschlag mit dem Röntgenbild weg und zog den phosphoreszierenden grinsenden Schädel heraus.
    «Das ist also dein wahres Gesicht, Onkel.»
    Er nahm ihr die Aufnahme weg und hielt sie gegen das Licht. Er holte einen Kugelschreiber heraus und begann auf dem Schädel herumzukritzeln.
    «Nicht!»
    Er schlug Rosies Finger weg. Er malte noch mehr Striche über den leuchtenden Schädel und zeigte ihn ihr.
    «Das ist mein Shanghai, Rosie. Neogotischer Stil, ein Hauch von Rajasthan, ein Jugendstilbrunnen. Die Geschichte meines Lebens in einem einzigen Gebäude. Warum sagt dieser alte Lehrer die ganze Zeit Nein dazu? Weißt du, was sie in China inzwischen mit ihm gemacht hätten?»
    Sie schnappte nach dem Röntgenbild, er hielt es hoch, damit sie nicht herankam.
    «Lehrer sind die schlimmsten Menschen, Rosie. Die ganze Zeit, die sie damit verbringen, Kinder zu verprügeln, macht sie grausam. Sind innerlich völlig verkorkst.»
    «Ganz anders als Bauherren natürlich.»
    Und obwohl er wünschte, sie würde nicht solche Witze machen, musste er kichern.
    Sie lachte über ihren eigenen Witz und schob das Röntgenbild wieder in den Umschlag. Ein heiseres Prusten; Shah spürte eine Welle der Erregung. Das gehörte zu den Dingen, die er an Rosie liebte; ihre Stimme hatte immer etwas Anzügliches, gleichsam Halbnacktes.
    «Komm her», sagte er, obwohl das Mädchen schon neben ihm saß. «Komm her.» Er küsste sie auf den Hals.
    Es war das erste Mal, dass er so etwas im Auto getan hatte. Parvez, sein Fahrer, tat so, als hätte er nichts bemerkt.
    Zum ersten Mal seit Tagen dachte Shah nicht mehr an das Shanghai.
    An der nächsten Ampel hielten sie neben einem Bus, der mit Werbung für einen neuen Bollywood-Film bemalt war, «Dance, Dance».
    «Hast du Insiderinformationen, Rosie?», fragte Shah und klopfte mit seinen Fingern gegen das Glas. «Warum verschwendet dieser Panjabi-Knabe so viel Geld mit diesem Flop?»
    Es war ein Film, der in den Zeitungen zu großen Spekulationen geführt hatte. Der Fall war ungewöhnlich, denn der Film war als Comeback für Praveena Kumari gedacht, die in den 1980ern große Erfolge gefeiert hatte. Auf der Höhe ihres Erfolges hatte Ms Kumari Bollywood verlassen, um sich in Amerika niederzulassen; sichtlich gealtert und übergewichtig,

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