Liebe auf den zweiten Kuss
verführerisch. Sie legte mehr und mehr Waren in ihren Wagen, Gemüsepasta und frischen Knoblauch und rote und weiße und gelbe Zwiebeln. Plötzlich sah alles appetitanregend aus, und sie verspürte Hunger.
Erst an der Kasse erinnerte sie sich daran, dass sie zu Fuß gekommen war. Die köstliche farbige Vielfalt stellte sich nun als ziemlich schwer heraus, und zwei Straßenkreuzungen vom Laden entfernt musste sie die Tüten abstellen, damit ihre Finger wieder durchblutet wurden. Während sie die Finger massierte, blickte sie sich um. Wie fast alle Straßen im German Village war auch diese gesäumt von Bäumen und die Backsteinhäuser umgaben schmiedeeiserne Zäune. Doch diese hier kam ihr merkwürdig bekannt vor. Als sie weiterging, fiel ihr auch ein, weswegen: Es war die Straße, in der Lynnie wohnte. Sie sah nach, ob Lynnie zu Hause war. Die Tür zu Lynnies Hälfte des Doppelhauses aus Backstein stand offen, davor eine fremde Frau wartend auf der schmalen Terrasse. Nell hob ihre Tüten wieder an und ging näher heran, um zu sehen, was dort vorging.
Lynnies Wohnung schien leer zu sein. Ein Teil der Möbel war noch da, wartete jedoch darauf, in einem Laster mit der Aufschrift ›Stadtumzüge‹ verstaut zu werden. Nell trat zur Seite, als ein Mann einen Stuhl an ihr vorbei heraustrug. Dann stieg sie die Stufen zu der Frau auf der Terrasse hinauf. Sie fühlte sich merkwürdig allein gelassen, als sei eine Freundin umgezogen, ohne ihr etwas zu sagen.
»Hallo«, grüßte sie und deutete auf die geöffnete Tür.
»Zwei Schlafzimmer, achthundert Dollar im Monat«, sagte die Frau. Nell begriff, dass es sich bei der Frau um die Nachbarin aus der anderen Hälfte des Hauses handeln musste. »Möchten Sie sich die Wohnung ansehen?«
»Ja«, erwiderte Nell, erpicht darauf, mehr über Lynnies neuen Aufenthaltsort zu erfahren. Sie folgte der Frau in die Wohnung und stellte die Tüten im Flur ab, um ihre Hände zu entlasten.
Die Vermieterin, Doris, lebte in der anderen Hälfte des Doppelhauses und wusste nicht das Mindeste über Lynnie, außer dass sie ihr einen Zettel an der Tür hinterlassen hatte. Darauf stand, dass sie auszog und Doris den Rest der Monatsmiete behalten könne. Doris war nicht sonderlich glücklich darüber, dass Lynnie einfach aus ihrem Vertrag ausstieg, und noch unglücklicher darüber, dass sie wegen der Umzugsleute an diesem Samstagmorgen nicht ausschlafen konnte. Doch, verkündete sie, sie war nicht nachtragend. »Ich bin eine von denen, die ein Glas eher als halb voll als halb leer bezeichnen«, sagte sie und sah dabei aus, als hätte ihre beste Freundin soeben das Zeitliche gesegnet. »Ich kann einfach nicht anders, ich sehe die Dinge immer von ihrer positiven Seite.«
Nachdem Nell alles erfahren hatte, was Doris wusste, hörte sie ihr nunmehr mit halbem Ohr zu. Die Wohnung begann ihr zu gefallen: Es war eine ganz normale Doppelhaushälfte, mit einem Wohnzimmer und der Küche im Erdgeschoss sowie zwei Schlafzimmern im ersten Stock. Das Wohnzimmer war groß genug, um dort die Esszimmereinrichtung ihrer Großmutter aufzustellen. Und die Küche hatte Schränke mit Glastüren, und die Schlafzimmer waren richtige Schlafzimmer mit richtigen Türen, und das Badezimmer hatte schwarz-weiße Fliesen noch aus den Vierzigerjahren. Sie blickte aus der Hintertür auf einen winzigen, umzäunten Garten. Marlene würde er gefallen.
Dann wanderte ihr Blick auf die mit Lebensmitteln voll gepackten Tüten im Wohnzimmer. Das waren mehr Lebensmittel, als sie im gesamten letzten Monat verbraucht hatte. Sie hatte große Lust, das Gemüse in dem alten Porzellanbecken in der Küche zu putzen und ihr Geschirr in die Vitrinen-Schränke zu stellen, die Tomaten auf dem Gemüsebrett zu schnipseln und auf der winzigen Veranda Kartoffeln mit Essig zu essen, während sie dem Treiben im Village zusah. Sie wollte die Dinge sehen und schmecken und fühlen, und dies war der richtige Ort dafür.
»Ich habe einen Hund«, sagte sie.
»Neunhundert«, erwiderte Doris. »Immer unter der Voraussetzung, dass Ihr Scheck gedeckt ist.«
»Achthundert, dann stelle ich Ihnen jetzt gleich einen Scheck für die ersten drei Monate aus«, handelte Nell. »Sie brauchen die Wohnung nicht in die Zeitung zu setzen. Sie müssen sie noch nicht einmal sauber machen.«
»Ich weiß nicht recht«, gab Doris zu bedenken. »Ein Hund.«
»Es ist ein Dackel. Sie heißt Marlene und schläft sehr viel.«
Eine halbe Stunde später öffnete sie die Tür zu ihrer
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