Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
zurückzulassen. Jahrelang war ich verwirrt an dem Haus vorbeigegangen, hielt Ausschau nach den kleinen Füßen, seinem weißen löchrigen Pullover mit dem roten Fleck, nach seinem Gesicht, an das ich mich schon kaum mehr erinnern konnte, ich suchte, aber nicht, um etwas zu finden, es war eher so, wie man einen Brief, den man niemals abschicken wird, trotzdem mit viel Gefühl und großer Sorgfalt schreibt. Ich habe ihn nie wiedergesehen, es ist, als hätte er seither das Haus nicht mehr verlassen, als hätte er immer nur jenes Bild erneuert, Monat um Monat, Jahr um Jahr, und die Spuren der Jahre hinzugefügt, als hätte er Flecken auf die Hände gemalt, die Oberschenkel dicker und weicher gemacht, das Gesicht matter, die Augen weniger klar, ich gehe dort vorbei, schnell und flüchtig wie ein Schatten, mit gesenktem Gesicht, damit er mich ja nicht sieht, und nur heimlich schaue ich mal da-, mal dorthin, er ist es, er ist es nicht, wie sieht er überhaupt aus, im Moment sieht ihm jeder Mann ähnlich, im Moment bin ich sicher, daß ich ihn auch dann nicht erkennen würde, wenn er an mir vorbeiginge, schließlich habe ich ihn nie wirklich betrachtet, nie ließ ich zu, daß sich seine Gesichtszüge in mein Gedächtnis gruben, nie erlaubte ich seinen Worten, an mein Ohr zu dringen, was hat er damals in meinen Schoß geflüstert, der Hauch seines Atems läßt die süßen Silben schmelzen, sie laufen klebrig und warm an der weichen Haut herunter.
Die Ampel wechselt auf Grün, und ich betrachte immer noch den weißen Rauch, meine vergeblichen Phantasievorstellungen gehen in ihm auf, als wäre er für mich bestimmt, ein dicker Film auf meinen Augen, der mich von der Wirklichkeit trennt, ich warte auf ein Zeichen von den Autos neben mir, um sicher zu sein, daß ich jetzt weiterfahren muß, hin zu der Stelle, wo ich den Urteilsspruch hören werde, was für Gelübde gibt es, die ich damals, vor acht Jahren, nicht abgelegt habe, als Noga bewußtlos dalag. Ich schwor, ihn nie wiederzusehen, mich nie wieder zu verlieben, was kann ich jetzt noch schwören, damit Udi wieder gesund wird. Da höre ich Annats müdes Lachen, wer braucht deine Opferbereitschaft, wer hat was davon, wenn du leidest, und innerlich streite ich mit ihr, wenn es nichts nützt, so schadet es auch niemandem, und sie sagt, doch, es schadet jemandem, dir nämlich, siehst du das nicht? Ich sehe jetzt nichts, hänge mich hartnäckig an das Auto vor mir, als könne es mich retten, der weiße Rauch des Cafés begleitet mich den ganzen Weg wie eine Schleppe, die Böses verheißt, und stiftet Unruhe zwischen den Gelübden.
Im Schatten der Berge parke ich, weit weg vom Krankenhaus, als wäre ich auf dem Weg zu einem Picknick im Schoß der Natur, kurz bevor der Sommer mit geschliffenen Nägeln über die Berge herfällt, noch sind sie von einem unschuldigen Grün bedeckt, aber in einigen Tagen bereits werden sie sich in ihre gelbe Dornenuniform werfen, und in einer einzigen Nacht wird sich eine schwarze Branddecke über den Bergen ausbreiten. Ich atme die scharfe Morgenluft ein, versuche, die Bäume und Gräser zu beschwören, komme nur langsam vorwärts, Schritt für Schritt, schon tun mir die Beine weh, das ist keine Verweichlichung, immer habe ich zu dem mißtrauischen Udi gesagt, sie tun wirklich weh. Er rennt voraus, und ich falle zurück, bin gekränkt, rufe, warte doch, aber er rast weiter wie ein abgeschossener Pfeil, lang und schmal und unfähig innezuhalten. Was wird jetzt mit ihm sein, wie kann er ohne seine Beine leben, schließlich braucht er nichts dringender als sie, ich wäre bereit, für ihn auf meine Beine zu verzichten, sie sind ohnehin nicht viel wert, und schon stelle ich mir vor, wie ich still und edel im Rollstuhl sitze und mich mit traurigem Knarren von einem Zimmer ins andere bewege, und Tränen des Selbstmitleids treten mir in die Augen, genau in dem Augenblick, als ich die Station betrete. Es scheint überhaupt nicht dieselbe Abteilung zu sein, alle Gesichter haben sich geändert, oder vielleicht ist es auch nur ihr Ausdruck, so wie eine Landschaft im Sommer anders aussieht als im Winter. Da geht die Schwester mit den schönen Händen an mir vorbei, ich frage sie gespannt, was mit Udi ist, und sie sagt, er ist in Ordnung, aber ihr Blick ist distanziert, als wäre ihr gerade in diesem Moment ein unangenehmes Gerücht zu Ohren gekommen, das mich betrifft, ich versuche, diesen Blick zu ignorieren, haben die Ärzte schon ihre Visite gemacht, frage
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