Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
Konversionsneurose aufwecken, die uns begleitet und ruhig und gefährlich hinten im Auto schläft.
Ich werfe ihm eine unschuldige Frage hin, wann kommen wir an, und er antwortet kurz, noch ungefähr eine Stunde, und ich schlage vor, vielleicht halten wir unterwegs an und essen etwas, und er sagt, es wäre besser, zu warten, dort ist das Essen am besten, und es scheint, als habe dieses belanglose Gespräch zwar seine Spannung gemildert, meine aber nicht, da ist wieder diese Kälte an meinem Rückgrat, Eiswürmer schmiegen sich um die müden Wirbel in einer erstarrenden Umarmung.
Möchtest du einen Blick auf die Stadt der Toten werfen, fragt er, und ich möchte nur an einem warmen Ort sitzen, mit Kaffee und Kuchen, aber es ist mir nicht angenehm, schon wieder abzulehnen, sonst wird er noch sagen, daß nichts Ewiges mein Interesse wecken könne und ich keine Beziehung zur Geschichte hätte. Schade, daß ich nicht bereit gewesen bin, das Kloster zu betreten, was ist schon ein Haufen Schädel gegen eine ganze Stadt von Toten, ich versuche, mich selbst zu animieren, eine ganze Stadt von Toten? Ja, sagt er, eine Begräbnisstadt, aus der ganzen jüdischen Welt sind sie damals gekommen, um sich hier begraben zu lassen, und ich frage, warum ausgerechnet hier, er erklärt es gern, in Jerusalem war es schon verboten, sich begraben zu lassen, es war auch verboten, nach dem Bar-Kochba-Aufstand in der Stadt zu wohnen, noch nicht einmal an einem Ort, von dem aus man Jerusalem sehen konnte. Überhaupt haben sich die Beerdigungszeremonien nach dem Exil geändert, erst danach hat man angefangen, an die Auferstehung der Toten zu glauben. Ich folge ihm in die tiefen, kalten Höhlen, jedes Grab ist mit einem einzigen Licht erleuchtet, das die Dunkelheit drum herum nur noch betont, eine private Leselampe für jeden Verstorbenen. Gleich am Anfang gibt es das Grab eines Mädchens, das im Alter von neun Jahren und sechs Monaten gestorben ist, man erfährt nicht, woran, ich bleibe erschrocken an ihrem Grab stehen und frage, was glaubst du, woran sie gestorben ist, und er sagt, wozu willst du das wissen, gibt es nicht genug Gründe zu sterben? Aber dieses Alter bedrückt mich, sie war so alt wie Noga, plötzlich kommt mir dieses lange Jahr zwischen neun und zehn besonders gefährlich vor, ich muß wissen, wovor man sich in acht nehmen muß.
Stolz zeigt er mir die Symbole auf den Grabsteinen, den assyrischen Stier und den römischen Adler und den Pfau, der die Ewigkeit symbolisiert, und den siebenarmigen Leuchter und die Göttin Nikea, die römische Siegesgöttin, siehst du, was für eine Toleranz, sagt er staunend, sie haben sich nicht gescheut, auch fremde Symbole zu verwenden, aber ich bin starr und verängstigt, denn all diese Tiere sammeln sich um den Kopf meiner Noga und bedrohen ihr Leben, ich lausche seinen gelehrten Erklärungen nicht mehr, ich möchte nur hinaus, ich warte auf meine Auferstehung wie diese privilegierten Toten, und als wir hinausgehen, ist er so stolz und zufrieden, als wäre das sein Privatbesitz, die antike Grabstätte seiner Familie, und ich betrachte feindselig den gepflegten Rasen, was habe ich mit diesem Ort zu tun, von dem aus man Jerusalem nicht sehen kann?
Was hast du, du bist ja ganz grau, er betrachtet mich spöttisch, und ich will nur zum Auto und meine Mutter anrufen, ich bin müde, sage ich und wähle nervös die Nummer, da antwortet sie, ich war heute morgen beim Kassenarzt, er sagt, daß es nicht besser geworden ist, sagt sie dramatisch, und ich unterbreche sie, hat Noga heute morgen etwas gegessen? Natürlich hat sie was gegessen, sagt sie stolz, ich habe ihr einen Brei gemacht, wie sie ihn gern hat, mit Schokoladenstückchen, sie hat nichts übriggelassen. Ich seufze erleichtert, blitzschnell sieht alles weniger bedrohlich aus, sogar diese Grabhöhlen, vor lauter Dankbarkeit wäre ich bereit, noch einmal hineinzugehen, und Udi sagt, siehst du, wenn sie weit weg von dir ist, ist alles in Ordnung, nur mit dir stellt sie sich an, und ich lehne mich zurück und frage mit plötzlichem Interesse, das sogar mich überrascht, wie hat dieser Ort damals ausgesehen? Ungefähr wie heute, sagt er, es hat sich nicht viel geändert, nur daß statt dieser Zypressen hier Kiefern, Pistazienbäume und Johannisbrotbäume wuchsen, ich schaue mich um, das war es also, was die Eltern jenes Mädchens sahen, nachdem sie tagelang hierhergezogen waren, mit der Leiche ihrer kleinen Tochter, die ab und zu auf dem unebenen Weg
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