LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition)
»Und das soll mich davon überzeugen, dass es sich bei Ligeia in Wahrheit um eine Sirene aus der Mythologie handelt? Ich glaube, ich habe dir schon einmal erklärt, dass sie eine extrem gut aussehende Frau mit jeder Menge Sex-Appeal ist. Ich habe jeden Zentimeter ihres Körpers kennengelernt … da wachsen keine Federn. Weder besitzt sie Vogelklauen noch versteckt sie irgendwo verkümmerte Flügelreste. Glaub mir, das wäre mir aufgefallen, ganz egal, wie schön sie singt.«
Bill hob eine Hand. »Wart’s ab«, sagte er. »Jetzt wird’s erst richtig interessant.«
Er räusperte sich und las weiter vor: »›Im Laufe der Jahre wandelte sich die Beschreibung der Sirenen. Die ursprüngliche Schilderung von drei Schwestern mit überwiegend vogelartigem Körper wich schließlich einer Charakterisierung, die auf eine Verwandtschaft zu Fischen hindeutete. In manchen Berichten wurden ihnen die typisch menschlichen Attribute einer attraktiven Frau zugeschrieben. Man beschrieb sie als Jungfrauen von außergewöhnlich sinnlicher Schönheit mit langem, wallendem Haar, vor Fruchtbarkeit strotzenden Brüsten und Hüften, die jeden Mann an den Rand des Wahnsinns treiben. Von der Taille abwärts variierten die Schilderungen hingegen. Manchmal fanden sich dort schwarz geschuppte Vogelfüße, ein anderes Mal verschmolzen die Beine zu einer einzigen, von bläulich grünen Schuppen bedeckten, sich schlängelnden Fischflosse – ähnlich wie bei einer Meerjungfrau.‹«
»Einspruch«, fiel Evan ihm ins Wort. »Natürlich sieht sie gut aus, aber ich habe weder Schuppen noch Vogelfüße an ihr entdeckt.«
Bill achtete gar nicht auf seinen Einwurf. »›Spätere Berichte verzichteten gänzlich auf die tierischen Aspekte ihrer Anatomie und beschrieben sie lediglich als wunderschöne Frauen, die auf den Felsen in den entlegensten Winkeln einer Bucht hausen und allnächtlich ängstliche Fischer samt ihrer Mannschaftskollegen anlockten und in den sicheren Tod führten. Ihre Anziehungskraft rührt Aussagen zufolge von der reinen, makellosen Schönheit und ihrem Gesang her, der sämtliche ihrer Handlungen begleitet.
Es heißt, dem Ruf einer Sirene könne niemand etwas entgegensetzen. Ein Sterblicher, der ihren Ruf vernimmt, muss ihm folgen, auch wenn er damit sein eigenes Schicksal unwiderruflich besiegelt. In Homers klassischem Text steuerte Jason sein Schiff durch die gefährliche, von Sirenen bevölkerte Meerenge, indem er sich die Ohren mit Baumwolle verstopfte. So verhinderte er, dass ihr Gesang ihn betörte, und ließ sich überdies noch an den Mast fesseln, bis die Gefahr vorüber war.‹«
»Okay«, fasste Evan achselzuckend zusammen. »Der Mythos der Sirene reicht also von ein paar Schwestern mit Vogelhirn über zwischen Felsen hausende Fischweiber bis hin zu wirklich gut aussehenden, erotischen Frauen mit sexy Gesang. Ich verstehe immer noch nicht …«
Bill blätterte zu seinem nächsten Lesezeichen und las kommentarlos weiter: »›Die Darstellung der Sirene mag im Lauf der Jahrhunderte zwar Schwankungen unterworfen sein, eine Konstante bleibt jedoch bestehen. Die Existenz der Sirene kennt nur einen einzigen Zweck: Menschen mithilfe ihrer größten Schwäche in den Untergang zu treiben: sexuelle Begierde. Als Lockmittel dient stets der Gesang – eine reine, liebliche, verführerische Melodie, die Unschuld vortäuscht, im Grunde jedoch nichts weiter als eine Falle darstellt. Ihr Körper – ob nun von Federn oder Schuppen bedeckt oder schlicht und einfach von der makellosen Haut einer schönen Frau – wird stets als begehrenswert geschildert.
Der Gesang nimmt die Aufmerksamkeit des männlichen Opfers gefangen, während ihr Körper seine Lust entfacht. Schließlich umgarnt sie ihn, treibt ihn fast in den Wahnsinn, und er ist verloren. Dann zeigt sich ihre wahre Absicht. Denn die Sirene singt nicht, um Männern Seelenqualen zu bereiten – sie schert sich nicht um nicht greifbare moralische Verwirrungen –, sondern um sie anzulocken, um sich von ihrem Leib zu nähren. Die Sirene ist eine Fleischfresserin und setzt ihre List einzig dazu ein, um an eine Mahlzeit zu gelangen. Wie eine Schwarze Witwe lockt sie Männer aus einem einzigen Grund an: um sie aufzufressen. Ein berühmtes Gemälde zeigt die drei Sirenen, umgeben von den Überresten menschlicher Leichen, am Strand ruhend. Sie erwecken den Eindruck, sich am Fleisch der neben ihnen liegenden Toten gütlich getan zu haben.‹«
»Sie hat nicht ein einziges Mal versucht,
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