Little Brother
von allem. Und Dopey, Doc, Sneezy und Bashful." Wir hatten diese Familientradition, Sieben-Zwerge-Witze zu machen. Beide lächelten ein wenig, aber ihre Augen waren immer noch feucht. Sie mussten außer sich vor Sorge gewesen sein. Ich war dankbar dafür, das Thema wechseln zu können. "Ich brauch dringend was zu essen."
"Ich bestelle eine Pizza bei Goat Hill", sagte Dad.
"Ach ne, bitte nicht", sagte ich. Beide schauten sie mich an, als ob mir Antennen gewachsen wären. Normalerweise steh ich auf Goat Hill Pizza - also so, wie ein Goldfisch auf sein Futter steht: ich spachtel das Zeug, bis nichts mehr da ist oder bis ich platze. Ich versuchte zu lächeln. "Hab grade keine Lust auf Pizza", sagte ich bloß. "Wollen wir nicht lieber Curry bestellen?" Dem Himmel sei Dank, dass San Francisco die Hauptstadt der Lieferdienste ist.
Mom ging zur Schublade mit den Liefer-Speisekarten (noch mehr Normalität, ein Gefühl wie ein Schluck Wasser in der trockenen, wunden Kehle) und blätterte sie durch. Ein paar Minuten lenkten wir uns damit ab, die Karte des Pakistani auf der Valencia zu studieren. Ich entschied mich für gemischten Tandoori-Grillteller mit sahnigem Spinat und Frischkäse, gesalzener Mango-Lassi (viel besser, als es klingt) und kleines Gebäck in Zuckersirup.
Als das Essen bestellt war, ging die Fragerei weiter. Sie hatten von Vans, Jolus und Darryls Familien gehört, klar, und hatten versucht, uns als vermisst zu melden. Die Polizei schrieb zwar Namen auf, aber es gab so viele "verschollene Personen", dass sie erst nach sieben Tagen eine offizielle Vermisstenmeldung akzeptierten.
Derweil waren Millionen von "Wer-hat-wen-gesehen"-Seiten im Internet entstanden. Einige davon waren alte MySpace-Klone, denen das Geld ausgegangen war und die sich von all der Aufmerksamkeit Wiederbelebung erhofften. Immerhin vermissten auch einige Risikokapitalgeber Familienangehörige in der Bay Area. Und wenn die aufgefunden werden würden, vielleicht brächte das der Site dann neue Finanzspritzen? Ich schnappte mir Dads Laptop und schaute die Seiten durch. Vollgekleistert mit Anzeigen, logisch, und Bilder von Vermissten, meist Schulabschluss-Fotos, Hochzeitsfots und derlei Sachen. Insgesamt ziemlich gruselig.
Ich fand mein Bild und sah, dass es mit Vans, Jolus und Darryls verknüpft war. Es gab ein kleines Formular, mit dem man Leute als gefunden kennzeichnen konnte, und ein anderes, das für Notizen über andere Vermisste gedacht war. Ich füllte die Felder für mich, Jolu und Van aus und ließ Darryls leer.
"Du hast Darryl vergessen", sagte Dad. Er mochte Darryl nicht besonders, seit er mal bemerkt hatte, dass in einer der Flaschen in seinem Spirituosenschrank ein paar Zoll fehlten und ich es - das ist mir heute noch peinlich - auf Darryl geschoben hatte. In Wirklichkeit waren wirs beide gewesen, nur so zum Spaß, ein paar Wodka-Cola beim nächtelangen Computerspielen.
"Er war nicht bei uns", sagte ich. Die Lüge ging mir schwer über die Lippen.
"O mein Gott", sagte Mom. Sie krallte ihre Hände ineinander. "Als du kamst, hatten wir angenommen, dass ihr alle zusammen wart."
"Nein", log ich weiter. "Nein, er wollte uns treffen, aber er kam nicht. Wahrscheinlich sitzt er noch in Berkeley fest. Er wollte die BART rüber nehmen."
Mom gab ein leises Wimmern von sich, und Dad schüttelte den Kopf und schloss die Augen. "Hast du noch nicht von der BART gehört?", fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Ich ahnte, was nun kommen würde, und es fühlte sich an, als ob mir jemand den Boden unter den Füßen wegzog.
"Sie haben sie gesprengt", sagte Dad. "Die Bastarde haben sie hochgejagt, zur selben Zeit wie die Brücke."
Das hatte nun nicht auf der ersten Seite des Chronicle gestanden, aber schließlich war auch eine BART-Explosion im Unterwasser-Tunnel vermutlich nicht halb so bildgewaltig wie die Brücke, wie sie da in Fetzen über der Bay hing. Der BART-Tunnel vom Embarcadero in San Francisco bis rüber zur Station West Oakland war überflutet.
Ich ging wieder an Dads Computer und surfte auf den Nachrichtenseiten. Niemand wusste Genaues, aber die Opferzahl ging in die Tausende. Von den Autos, die 60 Meter tief ins Meer gestürzt waren, zu den Menschen, die in Zügen ertranken: die Opferzahlen stiegen noch. Ein Reporter behauptete, er habe einen "Identitätsfälscher" interviewt, der "Dutzenden" von Menschen dabei geholfen habe, nach den Anschlägen einfach aus ihrem alten Leben zu verschwinden - die ließen sich neue IDs
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