Little Brother
Krypto sei Dank, nicht durch bloßes Anschauen von Daten rausfinden, wer Xnet-Daten versendet.
Aber was du rausfinden kannst, ist, wer viel, viel mehr verschlüsselten Datenverkehr erzeugt als alle anderen. Bei einem normalen Internet-Benutzer kommen in einer Online-Session vielleicht 95 Prozent Klartext und 5 Prozent Chiffretext zusammen. Wenn nun jemand zu 95 Prozent Chiffretext versendet, dann könnte man ja computererfahrene Kollegen von Popel und Pickel hinschicken, um nachzufragen, ob er vielleicht ein terroristischer drogendealender Xnet-Benutzer ist.
In China passiert genau das permanent. Irgendein cleverer Dissident kommt auf die Idee, die Große Chinesische Firewall, die die gesamte Internetanbindung des Landes zensiert, zu umgehen, indem er eine verschlüsselte Verbindung zu einem Computer in einem anderen Land herstellt.
Dann kann die Partei zwar nicht herausfinden, was er überträgt - vielleicht Pornos, vielleicht Bombenbauanleitungen, schmutzige Briefe von seiner Freundin auf den Philippinen, politische Materialien oder gute Nachrichten über Scientology. Aber was es ist, müssen sie auch nicht wissen. Es genügt, wenn sie wissen, dass dieser Typ viel mehr verschlüsselten Datenverkehr hat als seine Nachbarn. Und dann schicken sie ihn in ein Zwangsarbeitslager, bloß um ein Exempel zu statuieren, damit jeder sehen kann, was mit Klugscheißern passiert.
Für den Moment hätte ich wetten mögen, dass das DHS das Xnet noch nicht auf dem Radar hatte, aber das würde nicht ewig so bleiben. Und nach diesem Abend war ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich noch besser dran war als ein chinesischer Dissident. Ich setzte alle Leute, die sich am Xnet anmeldeten, enormen Risiken aus. Vor dem Gesetz war es gleichgültig, ob du tatsächlich irgendwas Schlimmes tatest; sie würden dich schon unters Mikroskop legen, bloß weil du statistisch gesehen unnormal warst. Und ich konnte das Ganze nicht mal mehr stoppen - jetzt lief das Xnet, und es hatte ein Eigenleben entwickelt.
Ich musste die Sache irgendwie anders gradebiegen.
Wenn ich nur mit Jolu drüber reden könnte. Er arbeitete bei einem Internetanbieter namens Pigspleen Net, seit er zwölf Jahre alt war, und er wusste viel mehr übers Internet als ich. Wenn irgendjemand eine Ahnung hatte, wie wir unsern Hintern aus dem Knast draußenhalten konnten, dann er.
Zum Glück waren Van, Jolu und ich für den folgenden Abend nach der Schule zum Kaffee in unserem Lieblingsplatz in der Mission verabredet. Offiziell wars unser wöchentliches Harajuku-Fun-Madness-Teamtreffen, aber seit das Spiel abgebrochen und Darryl verschwunden war, wars hauptsächlich wöchentliches gemeinsames Flennen, ergänzt um rund ein halbes Dutzend Telefonate und Textnachrichten im Stil von "Bist du okay? Ist das wirklich passiert?" Es würde gut tun, mal über was anderes sprechen zu können.
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"Du spinnst ja komplett", sagte Vanessa. "Bist du jetzt endgültig total übergeschnappt?" Sie war in ihrer Mädchenschul-Uniform gekommen, weil sie auf dem langen Weg nach Hause, ganz bis runter zur San Mateo Bridge und wieder rauf in die Stadt, mit dem Zubringerbus, den die Schule betrieb, im Verkehr steckengeblieben war. Sie hasste es, in der Öffentlichkeit in ihrer Schuluniform gesehen zu werden, weil die total Sailor Moon war: ein Faltenrock, Tunika und Kniestrümpfe. Sie war schon schlecht gelaunt, seit sie ins Café gekommen war, das voll war mit älteren, cooleren, zotteligen Emo-Kunststudenten, die in ihre Lattes grinsten, als sie zur Tür reinkam.
"Was denkst denn du, was ich machen sollte, Van?", fragte ich. Ich fing selbst langsam an, ärgerlich zu werden. In der Schule wars unerträglich, seit das Spiel nicht mehr lief und seit Darryl nicht mehr da war. Den ganzen Tag lang hatte ich mich im Unterricht damit getröstet, dass ich mein Team sehen würde oder besser gesagt das, was davon übrig war. Und jetzt hatten wir uns in der Wolle.
"Ich will, dass du aufhörst, solche Risiken einzugehen, M1k3y." Meine Nackenhaare stellten sich auf. Okay, wir verwendeten bei Team-Treffen immer unsere Team-Nicks, aber jetzt, da mein Nick auch mit meinem Xnet-Profil zusammenhing, machte es mir Angst, ihn laut in der Öffentlichkeit zu hören.
"Sag den Namen nicht noch mal in der Öffentlichkeit", platzte ich heraus.
Van schüttelte den Kopf. "Genau das ist es, worüber ich rede. Du könntest dich im Knast wiederfinden, Marcus, und nicht bloß du. Eine Menge Leute. Nach dem, was mit Darryl
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