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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Haare herunter, warf sie zu Boden und trampelte darauf herum!
    Ich begann zu kreischen, ein hoher, schriller Ton, den ich nie von mir erwartet hätte und der mir den letzten Rest gab. Auf allen vieren krabbelte ich schreiend aus der Küche, rannte schreiend die Treppe hinauf und sprang schreiend in den Kleiderschrank, all dies, ohne ein einziges Mal Luft zu holen. Dort saß ich dann und meine Zähne klapperten im Duett mit den Kleiderbügeln, die aneinanderschlugen, weil der ganze Schrank mit mir wankte.
    Zum Denken kam ich nicht, denn keine halbe Minute später hämmerte es schon von außen an die Schranktür. »Frances? Kann ich reinkommen?«
    Die Schranktür ging auf. Ich verbarg mein Gesicht in beiden Armen. Ich wagte mir nicht vorzustellen, wie sie jetzt aussah … verbrannt und entstellt … durch meine Schuld! Ich konnte hören, wie sie vor dem Schrank in die Knie ging. Eine Hand legte sich auf meinen Arm.
    »Frances, es ist doch gar nichts passiert!«
    Ich hatte sie so gerne angesehen. Ihr feines, nachdenkliches Lächeln, die Sonnenstrahlen um ihre Augen. Sie konnte ihre Augen zum Lachen bringen, ohne den Mund zu verziehen, als ob sie von innen her leuchtete. So würde sie nie wieder aussehen. Ein Schluchzen stieg in mir auf, ein so riesengroßer harter Klumpen, dass er nicht durch meine Kehle passte und mir nur einen fremden, tiefen Klagelaut abpresste.
    »Frances, Liebes, mach die Augen auf. Bitte!«
    Na schön. Das war wohl das Mindeste, was sie von mir verlangen konnte … dass ich mir wenigstens ansah, was ich angerichtet hatte!
    Nach einer kleinen Ewigkeit öffnete ich erst ein Auge, dann zwei. Wenn ich drei oder vier gehabt hätte, hätte ich sie auch noch aufgerissen. Denn vor mir auf dem Fußboden saß eine noch viel schönere Mrs Shepard. Ihr Haar war kurz und dunkel, ihr Gesicht so jung und die Augen so groß und leuchtend, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
    Fata Morgana!, durchzuckte es mich. Ich hatte keine Ahnung, wie so etwas außerhalb von Sandwüsten passieren konnte, aber Mrs Shepard war so unglaublich schön aus dem Feuer gekommen, dass es eigentlich nur eine Erklärung geben konnte: Das Ganze war ein Wunschbild, das mein Unterbewusstsein mir vorspiegelte, um mich vor der Wahrheit zu schützen.
    »Schatz, ich dachte, du wüsstest, dass ich eine Perücke trage …«
    »Eine Perücke?«, wiederholte ich, ohne einen Ton von mir zu geben.
    Sie nickte. »Einen Scheitel, eine Jüdische-Ehefrauen-Perücke. Du Armes, auch das noch, du musst uns ja langsam für völlig außerirdisch halten …«
    Der Kloß in meiner Kehle nutzte die Gelegenheit, um mit einem Strom von Tränen ins Freie zu spülen. Ich selbst fiel nach vorn in Mrs Shepards Arme – genau dahin, wohin zu fallen ich mit aller Macht angekämpft hatte, seit ich sie unversehrt dort knien sah. Im letzten Augenblick versuchte ich noch, an den Bahnhof in Berlin zu denken, aber umsonst, es war, als ob ich nichts daraus gelernt hätte. Da saß ich, keine drei Monate später, und umarmte schon wieder die falsche Mutter!
    Das Schlimmste aber war, dass es sich nicht falsch anfühlte. Es war genauso weich, warm und tröstlich, wie ich befürchtet hatte, und gleichzeitig merkwürdig vertraut – wie etwas, das ich mir schon so oft vorgestellt hatte, dass ich es wiedererkannte.
    Mrs Shepard, die ein wenig angesengt roch, hielt mich so leicht im Arm, dass ich jederzeit hätte herausschlüpfen können: herausschlüpfen, an meinen Schreibtisch stürzen und einen langen Brief an Mamu schreiben. Denn all die Dinge, die ich ihr schon die ganze Zeit hatte sagen wollen und nicht ausdrücken können, fügten sich in diesen Sekunden zu klaren Sätzen: Ich liebe dich, Mamu, du bist einzig, wenn ich nur einen Wunsch auf der Welt hätte, dann wäre es der, dass du bei mir bist … ich habe keinen Spaß, Mamu, ich habe nur einen falschen Namen und ein falsches Leben und wieso dauert das alles so lange?
    Doch ich blieb; blieb und ließ zu, dass das passierte, wovor ich die größte Angst hatte: Jemand schob sich zwischen mich und Mamu, jemand, der glücklicher und großherziger war und den zu lieben keinen Schmerz, sondern Freude bedeuten würde.
    Als Gary nach Hause kam, nahm er mich sofort beiseite: »Zeig, ob du geübt hast!«, und ich sang ihm meine vier Fragen vor, die ich jeden Tag auf dem Schulweg vor mich hin gesummt hatte.
    »Perfekt!« Er war begeistert. »Das wird meine Eltern umhauen!«
    Ich behielt meine Einschätzung für mich: dass es

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