Lokale Erschuetterung
zu rühren, wenn sie geht. Keine Musik wird laut, kein Fernseher geht an, er telefoniert auch nicht. Es scheint, als säße er einfach nur da und wartete auf den passenden Moment, ins Bett zu gehen. Manchmal, wenn sie dann nachts nach Hause kommt, sieht sie doch ein paar Spuren des Lebens. Essensreste, zwei oder drei Bierflaschen in der Küche, ein noch warmer Fernseher. Vor langen Zeiten lag hin und wieder ein Zettel auf ihrem Bett. Ein Liebesgruß von Hanns, ein paar Sätze aus einem Buch, das er gelesen, ein Zeitungsausschnitt, auf den er etwas für sie gekritzelt hatte. Aber so was hat es schon ewig nicht gegeben.
Umso besser, dass es Daniel gibt. Wenn sie jetzt darüber nachdenkt, stellt sie fest, dass die beiden sich fast jede Woche treffen. Und nun sind sie zusammen nach Frankenburg gefahren. Was eigentlich ihr Job gewesen wäre. Wenn sie es nur richtig machte mit Hanns und ihrer Beziehung.
Sie holt den Brief aus der Tasche und reißt ihn auf. Ein Blatt. Sie setzt sich auf einen Küchenhocker und hält das Blatt in den Händen. Vielleicht sollte sie es gar nicht erst lesen, sondern gleich zu dem klug aussehenden Polizisten gehen. Ihn lesen lassen. Und entscheiden. Es wäre wunderbar, wenn jemand anders für sie eine Entscheidung träfe. Veronika schließt die Augen und stellt sich das vor. Wie es sein könnte, müsste sie nicht mehr entscheiden. Sie hält das Blatt in den Händen und wünscht sich was. Dann liest sie doch.
Ich habe mir überlegt, Veronika, wie wir beide uns begegnen könnten. Auf Augenhöhe sollte es doch sein. Das willst du sicher genauso wie ich. Auch wenn ich jünger bin. Sechzehn Jahre, um genau zu sein. Aber das tut vielleicht auch gar nichts zur Sache. Ich weiß, dass du herausbekommen möchtest, wer ich bin. Du warst bei der |83| Polizei. Obwohl ich dir geschrieben habe, dass du keine Angst haben musst, warst du bei der Polizei. Du willst mich loswerden. Zum zweiten Mal. Dafür gibt es keinen guten Grund. Erinnertest du dich, wüsstest du das. Veronika, du solltest lernen, mich ein wenig gernzuhaben. Bleib.
Veronika faltet das Blatt wieder so, wie es im Umschlag lag. Morgen wird sie zu dem klugen Polizisten gehen. Oder nicht. Darüber muss sie noch nachdenken. Ob sie das Spiel aufrechterhält. Für wen auch immer. Vielleicht nur für sich. Jetzt wird sie sich erst einmal erklären lassen, wie man eine Gebärmutter loswird, die zwar geboren, sie aber nicht zur Mutter gemacht hat.
|84| 8. Kapitel
Im Auto ist die Welt noch in Ordnung. Hanns sammelt Daniel an der vereinbarten Kreuzung ein. Der hat einen dunkelblauen Rucksack auf dem Rücken und steigt in den Wagen, als seien sie zum Picknick verabredet. Hanns schielt auf Daniels Hose. Die ist dunkelblau, mit dünnen, helllila Streifen. Irgendwie schräg. Schwul, findet Hanns, aber er sagt nichts. Ist sich immer noch nicht sicher, ob sein junger Freund auf Männerärsche oder Titten steht. Er erinnert sich daran, so etwas einmal über einen Kollegen gesagt zu haben. Veronika ist fast ausgeflippt.
Du wirst mir hier nicht solche Sprüche klopfen, Hanns. Nicht, wenn ich dabei bin.
Vroni hatte schon immer Probleme damit, wenn man mal die Sau rauslassen wollte. Wenigstens verbal. Im wahren Leben ist es ihm egal, ob einer seinesgleichen fickt oder nicht. Schon wieder. Hanns klopft Daniel etwas unbeholfen auf die Schulter und sagt, danke, Kumpel, dass du mitkommst. Daniel grinst und macht einen auf John Wayne. Kann dich doch nicht hängenlassen. Vier Augen sehen mehr als zwei, wir werden vorsichtig sein müssen.
Hanns lacht. Ihm liegt ein großer runder Stein im Magen, und der ist gerade ein bisschen kleiner geworden. Er wäre auch gern mit Veronika gefahren. Aber Daniel ist wahrscheinlich die bessere Lösung. Nicht so dicht dran an seinem Leben. Und wenn ihn da das Elend überfällt in Frankenburg, wird es trotzdem gut sein, ihn neben sich zu haben.
|85| Daniel kramt in seinem Rucksack und holt eine Sonnenbrille raus. Hab ich mir gestern gekauft, sagt er. Wollte schon immer eine Ray-Ban haben. Wie findest du die?
Richtig schwul findet Hanns die. Aber auch das sagt er nicht. Mit der Brille erinnert Daniel ihn wieder an jemanden. Und er bekommt es nicht auf die Reihe. Kriegt es einfach nicht gebacken. Daniel will wissen, warum er jetzt so komisch guckt. Und Hanns sagt, du erinnerst mich an jemanden. Ganz oft. Aber ich weiß absolut nicht, an wen. Es ist nur so ein seltsames Gefühl, jetzt zum Beispiel, mit der Sonnenbrille. Als wärst du
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