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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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herrschte die Ansicht, dass Klempner ausgesprochen gut verdienten. Keisha konnte das nicht so recht bestätigen. Entweder war der persönliche Reichtum von Klempnern ein Mythos, oder ihr Vater war einfach unfähig. Sie hatte sogar schon um Arbeit für Augustus Blake gebetet, ohne Erfolg. Jetzt war der Samstag halb vorbei, und jede Nachricht von undichten Rohren oder verstopften Toiletten blieb aus. In Zeiten der Anspannung stand Augustus Blake immer auf dem Balkon und rauchte Lambert & Butlers, und genau das tat er jetzt. Keisha konnte nicht sagen, ob Leah die Belastung des nicht klingelnden Telefons ebenso spürte wie die anderen. Die beiden Mädchen lagen bäuchlings vor dem Fernseher. Seit vier Stunden schauten sie Frühstücksfernsehen und Zeichentricksendungen. Über jede einzelne machten sie sich lustig und verdarben Jayden den ganzen Spaß, aber es gab nun mal keine andere Möglichkeit, voreinander zu rechtfertigen, dass sie dieselbe Sendung schauen wollten wie ein Sechsjähriger. Als die Mittagsnachrichten anfingen, kam Gus herein und wollte wissen, wo Cheryl sei.
    »Weg.«
    »Selber schuld.«
    Quietschen und freudiges Im-Kreis-Hüpfen. Abgesehen davon, dass die Situation Marcia einen Punktsieg bescherte – »Sieh mal an, wie schnell ihr euch plötzlich fertig machen könnt, wenn’s wo hingeht, wo ihr hinwollt« –, war die Freude ungebremst, und alles verbündete sich, um sie noch zu vergrößern: Marcia zwang sie nicht, auf der High Road mit jeder einzelnen Bekannten aus der Kirche zu reden, und Gus nannte Keisha »Madam Eins« und Leah »Madam Zwei« und wurde auch nicht sauer, als Jayden vorausrannte zu den beiden Zwillingsbögen des goldenen M .
8. Röntgenassistenz
    Aber auf dem Heimweg trafen sie Pauline Hanwell, allein, mit ihrem Einkaufsrolli. Sie sah tatsächlich aus wie der Schauspieler George Peppard. Jayden streckte ihr das Spielzeug aus seinem Happy Meal entgegen. Aber Mrs Hanwell sah es gar nicht – sie sah Leah an. Keisha Blake schaute zu ihrer Freundin Leah Hanwell und sah, wie ihr die Röte den Hals hinaufstieg. Mrs Blake fragte Mrs Hanwell, wie es ihr gehe, und Mrs Hanwell sagte gut, und auch die Gegenfrage wurde gestellt, mit demselben Ergebnis. Mrs Hanwell war Krankenschwester im Royal Free Hospital und Mrs Blake Gesundheitsberaterin im Auftrag des St. Mary’s in Paddington. Keine der beiden Frauen konnte sich irgendwie dem Bürgertum zurechnen, aber sie sahen sich auch nicht als Arbeiterschicht. Sie plauderten kurz über den National Health Service, mit einer Mischung aus Ablehnung und Stolz. Mrs Hanwell erzählte den Blakes, dass sie eine Umschulung zur Röntgenassistentin mache, und Keisha war sich nicht sicher, ob Mrs Hanwell wusste, dass sie ihnen genau das schon vor ein paar Tagen bei den Mülltonnen erzählt hatte. »Übrigens, Augustus, Colin meinte, er kann Ihnen helfen, wenn Sie diese Parkgenehmigung für Ihren Transporter noch wollen.« Mr Colin Hanwell arbeitete bei der Bezirksverwaltung. Er war hauptsächlich für Fahrradsicherheit zuständig, besaß aber auch einen gewissen Einfluss in Parkplatzfragen. Keisha dachte: Und jetzt sagt sie, sie ist unterwegs zu Marks & Sparks, und als sie das tatsächlich sagte, durchzuckte Keisha ein unvergessliches Gefühl urheberischer Allmacht. Vielleicht konnte sie die Welt ja wirklich nach ihren Vorstellungen gestalten. »Leah«, sagte Mrs Hanwell, »kommst du mit?« Und Keisha Blake erlebte die Lücke zwischen dieser Frage und der Antwort darauf als unerträgliche Anspannung, die ihre Fähigkeit, ihr standzuhalten, bei Weitem überstieg und sich fast endlos in die Länge zog.
9. Verwirrt
    Was sie einmal angefangen hatte, das musste Keisha Blake auch zu Ende bringen, das lag auf der Hand. Wenn sie auf die Mauer rund um die Siedlung Caldwell kletterte, musste sie sie auch ganz entlangbalancieren, egal, was für Hindernisse ihr in den Weg kamen (Bierdosen, Baumäste). Auf andere Gebiete übertragen, äußerte sich dieses Zwangsverhalten als »Intelligenz«. Jedes Wort, das sie nicht kannte, ließ sie zum Lexikon greifen – wo sie eine Art »Vollendung« zu finden hoffte –, und jedes Buch zog das nächste nach sich, ein Vorgang, der sich natürlich nie vollenden ließ. Wie nicht anders zu erwarten, verschaffte ihr dieser Weg durchs Leben keine geringe Freude, und anfangs sah es tatsächlich so aus, als wären ihre Wünsche und ihre Fähigkeiten grundsätzlich im Einklang. Sie wollte lesen, konnte dem Lesedrang einfach nicht

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