London NW: Roman (German Edition)
widerstehen, und das war leicht zu bewerkstelligen und vergleichsweise billig. Gleichzeitig war sie aber verblüfft darüber, dass sie für solche reflexhaften Gewohnheiten gelobt wurde, denn sie wusste schließlich, dass sie sich bei vielen anderen Dingen ungeheuer blöd anstellte. War es nicht denkbar, dass das, was alle fälschlich für Intelligenz hielten, nur eine Art Mutation der Willenskraft darstellte? Sie konnte einfach länger still sitzen als andere Kinder, sich stundenlang klaglos langweilen und hingebungsvoll auch noch das allerletzte Eckchen der Malbücher ausmalen, die Augustus Blake ihr manchmal mitbrachte. Sie konnte nichts für diese Willensmutation – genauso wenig wie für die Form ihrer Füße oder dafür, in welcher Straße sie geboren war. Aus Zufälligkeiten zog sie keine echte Befriedigung. Und so entstand ein Bruch im Geist des Kindes: zwischen dem, was sie wesentlich über sich zu wissen glaubte, und dem, was andere als ihr Wesen wahrnahmen. Sie fing an, ihr Leben für andere zu führen, und wenn sie einmal eine Frage gestellt bekam, auf die sie keine Antwort wusste, pflegte sie die Arme vor dem Körper zu verschränken und in die Luft zu schauen. Als wäre die Frage viel zu banal, um sich ausführlich damit zu befassen.
10. Radio, sprich
Zufall? Auch Zufälle haben ihre Grenzen. Der Moderator in Colin Hanwells Küchenradio konnte doch nicht ständig bei den Zwischenansagen sein. Er konnte nicht jedes Mal, wenn Keisha Blake die Küche der Hanwells betrat, bei einer Zwischenansage sein. Sie forschte nach. Doch Leahs Vater, der an der Arbeitsfläche stand und Erbsen aus ihren Schoten pulte, verstand nicht einmal die Frage.
»Wie meinst du das? Da gibt es keine Musik. Das ist Radio 4, der Kultursender. Da wird nur geredet.«
Ein früher Beweis für den Wahrheitsgehalt des Spruchs: »Das Leben schreibt oft die seltsamsten Geschichten.«
11. Push It
Es war Keisha Blake nie in den Sinn gekommen, dass ihre Freundin Leah Hanwell eine bestimmte Persönlichkeit besitzen könnte. Wie bei den meisten Kindern fußte auch ihr Verhältnis auf Verben, nicht auf Substantiven. Leah Hanwell war ein Mensch, der bereit und willens war, diverse Dinge zu tun, die auch Keisha Blake bereit und willens zu tun war. Gemeinsam rannten, hüpften, tanzten, sangen, badeten, malten, radelten sie, schoben Nathan Bogle einen Valentinsgruß unter der Tür durch, lasen Zeitschriften, teilten sich eine Portion Pommes, mopsten eine Zigarette, lasen Cheryls Tagebuch, kritzelten das Wort FUCK auf die erste Seite einer Bibel, versuchten, Der Exorzist aus der Videothek auszuleihen, sahen zu, wie eine Prostituierte oder ein Flittchen oder einfach nur eine total verliebte junge Frau jemandem in einer Telefonzelle einen blies, entdeckten Cheryls Dope-Vorrat, entdeckten Cheryls Wodka, rasierten Leah den Unterarm mit Cheryls Rasierer, machten den Moonwalk, guckten sich den obszönen Tanz ab, den Salt’n’Pepa berühmt gemacht hatten, und noch viele solcher Dinge mehr. Aber jetzt waren sie nicht mehr auf der Quinton Primary, sondern auf der Brayton Comprehensive, wo plötzlich jeder eine eigene Persönlichkeit hatte, und so betrachtete Keisha Leah und versuchte zu ergründen, wie ihre Persönlichkeit aussah.
12. Porträt
Ein großherziger Mensch, voller Offenheit für die ganze Welt – vielleicht mit Ausnahme der eigenen Mutter. Erst aß sie keinen Thunfisch mehr wegen der Delfine und jetzt überhaupt kein Fleisch mehr wegen der Tiere allgemein. Wenn draußen vor dem Supermarkt in Cricklewood ein Obdachloser saß, musste Keisha Blake warten, bis Leah Hanwell mit dem Obdachlosen geredet hatte, wobei sie ihn nicht einfach nur fragte, ob er etwas brauche, sondern sich richtig ernsthaft mit ihm unterhielt. Dass sie mit ihren Eltern sehr viel schroffer umsprang als mit Obdachlosen, bewies nur, dass Großherzigkeit nicht in endlosen Mengen vorhanden und deshalb strategisch dort einzusetzen war, wo sie am dringendsten gebraucht wurde. Auf der Brayton war sie mit allen befreundet, ohne Unterschied und Grenzen, doch weder raubten die hoffnungslosen Fälle ihr den Stand bei den Beliebten noch umgekehrt, und wie ihr das gelang, war Keisha Blake ein Rätsel. Etwas von dieser universellen Freundlichkeit färbte auch auf Keisha ab, doch keiner lief je Gefahr, Keishas intellektuellen Eigensinn mit der inneren Großzügigkeit ihrer Freundin zu verwechseln.
13. Kies
Als sie mit einem Mädchen namens Anita von der Schule nach Hause gingen,
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