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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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über meine Haut zu ritzen. Es schmerzt, ohne zu bluten. In Sekundenschnelle färbt sich die aufgekratzte Haut rot und schwillt leicht an. Als das Tier von mir abläßt, zieren fünf fremdartige Male meinen Arm:
     

     
    »Denke an das Dreieck«, sagt der Prill-Hummer. Dann springt er von meinem Schoß und kriecht davon.
    Ich sehe ihm nach, rufe: »Was für ein Dreieck?«
    »Das rote …« Der Krebs gelangt an die etwa acht Meter entfernte Trennwand, hinter der die Umkleidekabine liegt, klettert mühelos an ihr empor, verharrt aber auf halber Höhe zur Decke. Dort sticht er eine Schere tief in die Wand und schneidet ein großes, dreieckiges Loch aus dem Kunststoff. Wirklich Kunststoff? Ich bilde mir ein, Muskelfasern und durchtrennte Blutgefäße zu erkennen. Das Loch erinnert an eine klaffende Fleischwunde. Die Kabine beginnt zu beben, als bäume sie sich gegen die Verletzung und den Schmerz auf, der ihr Inneres heimsucht. Ist das Flugzeug ein lebendes Wesen? Ist das sein Geheimnis? Wurden Seetha und ich von ihm verschluckt wie Jonas vom Walfisch? Während eine tiefrote, qualmende Masse aus der Wunde quillt, zwängt sich der Hummer in die Öffnung und verschwindet in ihr. Die Flüssigkeit, die aus dem Loch sprudelt, sieht aus wie Blut. Auch der süßliche Gestank, der die Kabine zu schwängern beginnt, riecht nach Blut. Kochend heiß strömt es aus der Wand. Ich ziehe und zerre an den Gurten, die mich an den Sitz fesseln, bäume mich auf, um der Flüssigkeit zu entkommen, die sich über den Boden auf mich zubewegt. Der Affe jenseits des Fensters schlägt wild gegen die Scheibe, lacht mich kreischend aus. Von überall auf dem Kabinendach trommelt es auf die Außenhülle ein. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Alles ist voll von ätzendem Rauch, der Gestank kaum noch zu ertragen. Wo das Blut über den Teppich strömt und die Sitzreihen berührt, lodern Flammen auf. Die Kabine windet sich wie ein riesiger Wurm auf einem heißen Blech. Als mich die kochende Masse schließlich erreicht und bis zu meinen Knöcheln schwappt, treffen mich der Schmerz und die Hitze wie ein elektrischer Schlag. Ich höre meine eigene Stimme, schrill und entstellt: »Mein Gott, holt mich hier raus! HOLT MICH HIER RAUS!«
     
    Ich öffne die Augen, sehe meine Hände unkontrolliert zittern. Seetha kniet über mir, preßt mich zu Boden, blickt auf mich herab. Ihre Angst vor mir ist in ihr Gesicht zurückgekehrt. Sie sieht aus wie ein in die Enge getriebenes Tier, das sich mit dem Mut der Verzweiflung auf ihren Angreifer gestürzt hat. Mit der flachen Hand schlägt sie mir ins Gesicht, ruft: »Stan, um Himmels Willen – komm zu dir! Stan …!«
    Ich versuche, ihre Hand abzuwehren, bekomme ihre Unterarme zu fassen und halte sie fest. Grund genug für Seetha, sich in Panik loszureißen und ein paar Meter von mir fortzukriechen. An der gegenüberliegenden Kabinenwand bleibt sie hocken, bleich und mit zerzausten Haaren.
    »Alles wieder okay?« fragt sie.
    Ich wische mir mit der Hand über die Augen, massiere mein Gesicht. »Ja.« Meine Stimme klingt heiser, als hätte ich minutenlang geschrien. »Ich – habe geträumt, glaube ich.« Ein Blick aus dem Fenster: Kein Affe, kein Wald, nur die gewohnte Schwärze. Ich sehe in Richtung Küche, sehne mich nach einem Schluck Wasser.
    »Du hast wie von Sinnen geschrien«, erklärt Seetha. Und nach einer längeren Pause: »Was hast du geträumt?«
    Ich denke nach, sitze eine Weile selbstversunken da. Dann krempele ich meinen rechten Ärmel hoch. Er ist unversehrt, ebenso der linke. Nicht die geringste Spur eines Kratzers. »Nur wirres Zeug«, sage ich.
    »Bist du aufnahmefähig?«
    Ich nicke. Mein Kopf schmerzt.
    »Dann sieh mal hinüber in die andere Kabine!«
     
    Die Trennwand am Ende des Tunnels hat sich geöffnet. Ein etwa zweieinhalb Meter breiter Gang führt schräg nach unten in einen tiefergelegenen Raum.
    »Wie lange ist das schon offen?« frage ich Seetha, die neben mir steht.
    »Erst seit ein paar Minuten. Ich wollte dich holen, aber du lagst in Morpheus’ Armen. Als ich versucht habe, dich zu wecken, begannst du zu toben.«
    Gemeinsam, wie neugierige Kinder, schleichen wir über eine breite, mit blauem Teppich ausgelegte Aluminiumtreppe hinab in den neuen Raum. Sein Kunststoffboden glänzt wie polierte Keramik. In jede der gewölbten Wände sind fünf Kabinenfenster eingelassen. Eine indirekte Deckenbeleuchtung spendet Licht. Ich erinnere mich an diesen Raum, habe ihn vor dem Abflug in New York beim

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