Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
liebe Güte, die könnten genauso gut aus Pappe sein«, murmelte er.
Nun stand unzweifelhaft fest, dass die Vermisstenfälle der jüngeren Zeit mit dem toten Hund und dem Einbruch in das Warenlager in Zusammenhang standen. Die anderen Opfer waren sang- und klanglos verschwunden. Es gab keine Spuren, keine Zeugen und keine Angehörigen, die man hätte befragen können. Die Leute waren wie vom Erdboden verschluckt und hatten keine brauchbaren Spuren hinterlassen. Maria Lopez hingegen hatte nicht einfach abtreten wollen. Irgendwo in diesem Chaos würden sie einen Hinweis finden – Haare, Fasern, Fingerabdrücke. Sie war mit einem scharfen Gegenstand – vermutlich sogar einem chirurgischen Gerät – verletzt worden. Vielleicht mit demselben Messer, mit dem auch der Deutsche Schäferhund aufgeschlitzt und ausgeweidet worden war. Lopez war die vierte Person binnen zwei Monaten, die aus Morrows sonst so friedlichem Revier verschwunden war. Irgendetwas lief hier gehörig schief.
Morrow hielt das Kruzifix immer noch umklammert. Die Kanten schnitten in seine Handflächen unter den Latexhandschuhen, so fest drückte er zu. In den Wohnungen aller Vermissten hatte er so ein lackiertes Holzkreuz mit dem Heiland gefunden. Was hatte das zu bedeuten? Er wusste es nicht. Die Menschen hier waren sehr religiös, besonders die armen.
»Informieren Sie die Mordkommission und die Spurensicherung«, sagte er zu einem Polizisten, der in der Nähe herumstand. »Wir werden das Ganze wie einen Mordfall behandeln, auch wenn wir noch keine Leiche haben.« Falls die Fälle tatsächlich zusammenhingen, musste er das FBI einschalten. Tat er das zu früh, stand er wie ein blutiger Anfänger da, der mit drei vermissten Personen heillos überfordert war. Wartete er zu lange, verschwanden möglicherweise noch weitere Opfer …
Er hatte schon einmal vor einer ähnlichen Entscheidung gestanden, die in einer Katastrophe geendet hatte. Als er noch seinen Posten als Polizeichef von St. Louis innehatte, waren innerhalb von fünf Monaten drei Prostituierte ermordet worden. Er hatte gezögert, von einem Serienkiller zu sprechen. Immerhin wurden in jeder Großstadt der Welt Huren umgebracht. Als Lydia Strong zu ihm kam und ihm von ähnlichen Fällen in Chicago berichtete, hatte er sie nicht ernst genommen. Angeblich habe ihr eine ehemalige Prostituierte von Menschenhandel im großen Stil erzählt; sie schreibe gerade an einem Artikel für die Vanity Fair . Damals hatte Morrow ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Er hatte nicht geahnt, dass Lydia gute Kontakte zum FBI pflegte. Als Morrow endlich Unterstützung anforderte, waren mittlerweile zwei weitere Frauen ums Leben gekommen. Erst das FBI kam den Tätern auf die Spur. Wie sich herausstellte, hatte die russische Mafia junge Frauen illegal in die USA eingeschleust und ihnen eine Karriere als Model versprochen. Die Mädchen wurden in Bordellen gefangen gehalten und zur Prostitution gezwungen. Als Lydias Artikel erschien und Morrows Weigerung, frühzeitig das FBI einzuschalten, publik wurde, kam es zum Skandal. Morrow musste seinen Posten als Polizeichef von St. Louis räumen.
Damals hatte er getrunken. Viel zu viel. Vielleicht hatte er den Mordfällen deswegen zu wenig Beachtung geschenkt. Wahrscheinlich hatte er Lydias Warnungen deswegen in den Wind geschlagen. Nach einem Aufenthalt in der Entzugsklinik und sechs Monaten Therapie sah er seinen Fehler ein. Inzwischen war er seit über fünf Jahren in Santa Fe, und er leistete vorbildliche Arbeit. Allerdings kam es hier nur selten zu Kapitalverbrechen. Bis jetzt.
Lydias Anwesenheit in der Gegend verschaffte ihm ein unangenehmes Déjà-vu. Ausgerechnet hierher hatte es sie verschlagen. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm. Sobald der Fall Lopez in der Zeitung stand, saß sie ihm wieder im Nacken.
Bis die Detectives eintrafen, stellte er zwei Polizisten zur Bewachung des Apartments ab.
»Niemand rührt irgendwas an. Sie schmieren sich kein Sandwich und benutzen auch nicht das Telefon, verstanden? Sie bleiben einfach vor der Tür stehen«, bellte er, steckte das Kruzifix in einen Plastikbeutel und notierte sich die Fundstelle. »Sagen Sie Keane, er soll nach dem Adressbuch des Opfers suchen. Ich habe keins gefunden.«
Er sah sich ein letztes Mal in der winzigen Wohnung um. Nirgendwo hingen Fotos. Auf einmal ahnte er, dass die Kollegen alle Schränke und Schubladen durchwühlen würden, ohne ein Adressbuch, Briefe oder Fotoalben zu finden. Diese
Weitere Kostenlose Bücher