Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
kistenweise Material mitbringen würde. Doch er hatte nur vier Briefumschläge dabei. Das Leben von Shawna Fox, Christine und Harold Wallace und Maria Lopez ließ sich auf einige wenige Dokumente reduzieren.
Trotzdem erzählten sie Geschichten, enthüllten Geheimnisse. Und nun hatte man sie mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Lydia betrachtete die Umschläge und zögerte lange, bevor sie den ersten öffnete, so als öffnete sie die Büchse der Pandora. Jeffrey saß im Arbeitszimmer auf dem Sofa, hatte die Füße auf den Tisch gelegt und blätterte so gelassen in Morrows Ermittlungsprotokoll, als wäre es eine Zeitschrift. Lydia beneidete ihn. Sie fühlte sich, als würde sie gleich über die Schwelle in eine andere Welt, eine andere Zeit treten, während Jeffrey im Hier und Jetzt zurückblieb. Er war ihr Ankerpunkt, ihr Leuchtturm im Dunkeln.
»Wo sind die Pinnwände?«, fragte Jeffrey und ließ die Notizen sinken. »Sonst kann ich nicht denken.«
Lydia holte drei einen mal drei Meter große Pinnwände hinter dem Bücherregal hervor, während Jeffrey die Staffeleien aus dem Wandschrank nahm. Sie stellten sie vor der Glasfront auf und schrieben die Namen der Opfer auf Karteikarten, die sie an die erste Pinnwand hefteten. An die zweite kam eine Landkarte der Umgebung und an die dritte die thematisch geordneten Zeitungsausschnitte.
»Mal sehen, was wir hier haben«, sagte Lydia und öffnete den ersten Umschlag.
Shawna Fox hatte allen nichts als Ärger gemacht: ihren Lehrern, ihren Pflegeeltern, den Sozialarbeitern. Sie war undiszipliniert, eine schlechte Schülerin und chronische Ausreißerin. Seit dem tödlichen Unfall ihrer Eltern, Shawna war damals fünf Jahre alt, befand sie sich in staatlicher Obhut. Ein glückliches Zuhause hatte sie nie gekannt. Sie war dreimal verhaftet worden: Das erste Mal, weil sie im Alter von vierzehn Jahren betrunken und ohne Führerschein ein von ihrem Freund gestohlenes Auto gefahren hatte. Später hatte sie einer Mitschülerin Marihuana verkauft, und zuletzt war sie wegen Prostitution in Albuquerque festgenommen worden.
Die Psychologin hatte in ihrem Gutachten geschrieben: »Shawna ist verschlossen und gefühlskalt, neigt jedoch zu Wutausbrüchen. Reue scheint ihr fremd zu sein. Sie ist nicht in der Lage, ihr Verhalten als selbstzerstörerisch zu durchschauen. Auf die Frage, warum sie sich so verhalte, antwortete sie: ›Ich tue, was ich tun muss, um zu überleben.‹ Mehr wollte sie dazu nicht sagen. Sie ist höchstwahrscheinlich von mindestens einem Pflegeelternpaar körperlich misshandelt worden. Tragischer Fall, Prognose eher ungünstig.«
Im Gegensatz zu früher war Shawna verschwunden, ohne Geld oder Wertgegenstände mitzunehmen. Die laufenden Ermittlungen hatten bislang zu nichts geführt. Ein anonymer Tippgeber hatte bei der Polizei gemeldet, er habe ein junges Mädchen auf dem Highway außerhalb von Albuquerque beobachtet. Als er angehalten habe, um ihr Hilfe anzubieten, sei sie weggerannt. Da es dunkel gewesen sei, habe er sie nicht genau erkennen können.
Außerdem hatte sich Shawnas Freund bei der Polizei gemeldet, Greg Matthews, ein achtzehnjähriger Schulabbrecher, der im Betrieb seines Vaters arbeitete. Er beharrte darauf, dass Shawna ihn eingeweiht hätte, hätte sie vorgehabt wegzulaufen. Sie liebe ihn und wolle ihn heiraten. Greg hatte als Jugendlicher ein paar Vorstrafen kassiert, sich aber, seit er für seinen Vater arbeitete, nichts mehr zuschulden kommen lassen. Nach Shawnas Verschwinden hatte man sein Alibi geprüft und nichts Verdächtiges festgestellt. Er gab den Ermittlern ein Foto von Shawna. Sie hatte das Gesicht einer Elfe und raspelkurzes, blondes Haar, leuchtend grüne Augen, eine Stupsnase und einen kleinen Goldring in der Nase. Ihr Blick und das breite Lächeln verrieten Lydia, dass das Mädchen in den Fotografen, vermutlich Greg, verliebt gewesen war. Lydia wurde jedes Mal wütend, wenn sie die Fotos von Verstorbenen sah. Sie machten deutlich, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann, wie lebendig die Toten in der Erinnerung bleiben, und dass die Trauer wie ein tiefer unentrinnbarer Abgrund ist.
Shawna wurde seit über einem Monat vermisst.
»Warum sollte das Mädchen diesmal nicht ausgerissen sein?«, fragte Jeffrey.
»Erstens: Anders als früher hat sie nichts gestohlen und sogar ihre Habseligkeiten zurückgelassen. Zweitens: Sie hat einen Freund, der sie zweifellos sehr liebt. Zeig mir den Teenager, der vor seiner großen, vielleicht sogar
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