Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
und ich wollte nicht, dass sie woanders hingeschickt wurde. Ich bin in meinen Pick-up gesprungen und nach Hause gerast, weil ich dachte, sie ist längst da. Aber da war keiner. Ich schwöre bei Gott, als ich in die Küche kam und sie nicht mit einer Zigarette am Tisch sitzen sah, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich die Strecke danach noch abgefahren bin. Sie ist weg«, sagte er, und seine zitternde Stimme verriet den kleinen Jungen, der noch immer in dem jungen Mann steckte. »Ihr ist etwas Schlimmes zugestoßen. Ich fühle es.«
Lydia dachte an Maria Lopez’ ausgeweidete, halb verweste Leiche im Wald.
Greg schwieg und drehte den Kopf zur Seite. Mit sanfter Flüsterstimme redete er weiter. Seine Hände zittern.
»Ich hätte sie gezwungen, auf mich zu warten, wenn ich gekonnt hätte. Aber Shawna ließ sich von niemandem was sagen, auch nicht von mir. Sie hatte ein echtes Autoritätsproblem. Ich wünschte, sie hätte auf mich gehört, nur dieses eine Mal.«
Man musste kein Gedankenleser sein, um zu merken, wie sehr der Junge Shawna liebte. Er wäre lieber gestorben, als dass er ihr wehgetan hätte. Dieser Kummer ließ sich nicht vortäuschen. Lydia wollte nicht in der Wunde herumstochern, denn sie wusste, wie schmerzlich die Unterhaltung für ihn war. Aber sie musste wissen, wer Shawna war, wo sie ihre Zeit verbracht hatte, und wie ihre Gewohnheiten ausgesehen hatten.
»Greg, erzählen Sie mir alles über Shawna. Was für ein Mensch war sie? Ich möchte verstehen, wer sie ist.«
»Die anderen haben immer nur das Schlechte gesehen, ihre miese Laune, die schlechten Noten, ihre aufmüpfige Art. Aber für mich war sie ein Engel. Mein Gott, sie konnte so süß sein! Liebevoll und fürsorglich.«
Lydia war unangenehm berührt. Sie versuchte, die Trauer und das Mitgefühl zu ignorieren, die sich in ihrem Herzen regten.
»Niemand, den ich kenne, hatte es so schwer wie Shawna. Als sie fünf Jahre alt war, kamen ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Sie musste in ein Waisenheim, weil sie keine Verwandten hatte. Viele Leute nehmen Pflegekinder nur des Geldes wegen auf. Die Kinder sind ihnen egal, manche hassen sie sogar. In der Hinsicht hatte Shawna nur Pech. Sie wollte nicht darüber reden. Aber sie hatte Narben am ganzen Körper. Verbrennungen von Zigaretten und am Rücken eine lange Narbe. Wenn man sich in ihrer Nähe zu schnell bewegte oder die Hand hob, zuckte sie zusammen. Wenn ich sie zu fest umarmte, bekam sie Panik und schlug um sich wie ein Tier in der Falle.
Meg und Harden Reilley, ihre letzten Pflegeeltern, haben ihr nie was getan, das hat sie selbst gesagt. Aber sie konnten einfach nichts mit ihr anfangen, sie war zu störrisch und zu wild. Ich glaube, sie haben ehrlich versucht, Shawna zu helfen, aber Shawna hat außer mir niemanden an sich rangelassen. Sie hat allen misstraut. Na ja, den meisten jedenfalls.«
»Den meisten?«
»Sie geht gern in die Kirche. Sie hat gesagt, es sei der einzige Ort, wo sie zur Ruhe kommt. Endlich war sie nicht mehr das schwarze Schaf. Sie ist immer in die Kirche zum Heiligen Namen gegangen und stand Pater Luis und seinem Neffen Juno sehr nahe. Sie hat beim Kuchenverkauf geholfen, beim Bingoabend, bei der Weihnachtsfeier. Sie hat immer gesagt, die würden sie akzeptieren, wie sie ist. Sie haben ihr verantwortungsvolle Aufgaben übertragen, das machte sonst keiner, und sie gaben ihr das Gefühl, vertrauenswürdig und einzigartig zu sein. Die Kirche ist ihr sehr wichtig. Sie hat das aber nicht an die große Glocke gehängt und sich heimlich hingeschlichen, als wäre es was Verwerfliches. Ich habe sie gefragt, warum, und sie hat geantwortet, sie hätte Angst, jemand könnte es ihr wegnehmen. Sie setzt sich immer voll und ganz für das ein, was sie liebt, aber sie leidet unter schrecklichen Verlustängsten. Sie tut mir so leid.«
»Dann war sie also meistens in der Kirche, in der Schule oder hier bei dir. Suchte sie noch andere Orte regelmäßig auf?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie hat kaum Freunde, geht nicht gern shoppen. Ins Kino auch nicht. Wir sind meistens zu Hause geblieben.«
Eine einsame Träne lief ihm über die Wange. Er schlug die Hände vors Gesicht, atmete schnell und flach. Am liebsten hätte Lydia seinen Kopf gestreichelt, ihn in den Arm genommen und ihm versichert, dass der Schmerz ein Ende haben würde – so wie die Erinnerung an Shawnas Gesicht. Aber sie war wie gelähmt, denn sie konnte ihm nicht
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