Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
geben, was sie sich selbst immer noch verweigerte. Außerdem stimmte es vielleicht gar nicht. Vielleicht würde sein Schmerz niemals enden, und er würde für den Rest seines Lebens in jeder Frau Shawna sehen.
Lydia blieb sitzen und sah seine breiten Schultern zucken. Dass es eine Verbindung zwischen Shawna und der Kirche gab, verwunderte sie nicht. Seit sie vor ein paar Stunden die Puzzleteile aneinandergefügt hatten, ging Lydia davon aus, dass jedes der Opfer durch einen seidenen Faden mit Juno verbunden war. Und irgendwo in diesem Spinnennetz saß der Killer und wartete auf sie.
»Es tut mir leid«, sagte Greg schließlich und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Nein, ich kann Sie verstehen.«
»Sie sind die Erste, die mir zuhört und mich nicht behandelt wie einen Kriminellen oder einen Volltrottel, dem die Freundin weggelaufen ist.«
»Ist Ihnen in den Tagen vor Shawnas Verschwinden jemand aufgefallen? Wurde sie belästigt?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Und ich hätte es garantiert gewusst, ich habe immer versucht, sie zu beschützen.«
»Denken Sie kurz nach. Hat sie irgendwann einmal jemanden erwähnt, den sie unheimlich fand oder nicht leiden konnte?« Etwas flackerte in Gregs Augen auf.
»Na ja, es ist albern, sicher ist es nicht von Bedeutung.«
»Was?«
»Am Tag vor ihrem Verschwinden musste ich Shawna versprechen, mir nie im Leben einen Minivan anzuschaffen, egal, wie viele Kinder wir bekommen würden. Sie hatte wohl einen grünen Minivan gesehen und meinte, wenn man einen Minivan fährt, kann man sich von seiner Jugend und seinem coolen Leben endgültig verabschieden. Aber sie hat nicht gesagt, wo sie das Auto gesehen hat und ob sie sich belästigt fühlte.«
»Sind Ihnen am Abend ihres Verschwindens auf der Straße noch andere Autos begegnet?«
»Nein. Miss Strong, glauben Sie, dass sie verfolgt wurde?«
»Es wäre möglich.«
»Ihre Eltern und ich haben sie fast immer gefahren.«
»Ist sie manchmal zu Fuß gegangen?«
»Ja.«
Lydia zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Greg.
»Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt, Tag und Nacht.«
Sie schaltete das Diktiergerät aus und steckte es ein, stand auf und schüttelte Greg die Hand. Sein Händedruck war warm und fest. Warum Shawna ihn liebte, war offensichtlich. Er hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt.
»Glauben Sie, dass sie tot ist, Miss Strong?«
»Ich weiß es nicht, Greg. Ehrlich.«
Er nickte und schloss die Augen.
»Danke.«
Er begleitete sie zum Auto, hielt ihr die Fahrertür auf. »Halten Sie mich auf dem Laufenden?«, fragte er.
»Natürlich.«
Lydia wendete, fuhr auf die Straße und sah Greg im Rückspiegel immer kleiner werden. Er stand reglos da und schaute ihr nach. Er sah klein und verloren und hilflos aus, wie ein trauriges Kind, dessen Luftballon in den Himmel gestiegen ist.
Sie umklammerte das Lenkrad, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie war wütend, so verdammt wütend. Nie hätte sie zugegeben, nicht einmal Jeffrey gegenüber, wie wütend die Gespräche mit den Hinterbliebenen sie machten. Auch sie waren Opfer des Killers. Sie mussten mit dem Wissen weiterleben, dass einem geliebten Menschen etwas Schreckliches angetan worden war. Sie mussten ständig die Gedanken an die Angst und die Schmerzen des Opfers verdrängen und die Frage, wie die letzten Minuten wohl ausgesehen hatten. Wenn jemand bei einem Autounfall oder Flugzeugabsturz ums Leben kam, bestand immer noch die Hoffnung, dass alles schnell ging, dass niemand etwas gespürt hat. Jemand macht sich auf den Weg zum Supermarkt, um Milch zu holen, und einen Moment später … nichts mehr. Die Familien der Mordopfer konnten sich nicht mit derlei Vorstellungen trösten. Sie kamen nie zur Ruhe. Sie wurden von Fragen gequält, und ihr Leben war nie wieder dasselbe.
Wer bist du? Was willst du?, dachte Lydia, als sie die Hauptstraße erreichte und das Gaspedal durchtrat.
Denn sie alle wollten etwas. Serienmörder gingen planmäßig vor. Pädophile und Vergewaltiger hingegen wurden von ihrem Trieb gesteuert. Ob angeboren oder erst später entwickelt, ob biochemisch oder psychologisch bedingt – ihre Störung war Teil ihrer Persönlichkeit. Aber ein Serienmörder hatte immer ein Ziel: Rache, Ruhm, Bestrafung.
Jed McIntyre zum Beispiel hatte Persönlichkeiten vernichten wollen. Die Tötung der Opfer, so sehr er sie genoss, war zu einem bestimmten Zweck geschehen: das Leben des zurückbleibenden
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