Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
Waisenkindes zu zerstören. So wie Jeds eigenes Leben zerstört worden war, als sein Vater vor seinen Augen seine Mutter ermordete und dafür auf den elektrischen Stuhl kam.
Jahrelang hatte Jed mit seiner Wut gelebt und ein weitgehend isoliertes Leben geführt. Das Grauen, das er mit ansehen musste, entfremdete ihn vom Rest der Welt. Er beobachtete seine Mitmenschen, seine Kommilitonen und später seine Kollegen und begriff, dass sie die Welt anders sahen als er. Er stand für immer im Schatten seiner traurigen Vergangenheit. Als er älter wurde, wuchsen seine Trauer und seine Wut ins Unermessliche. Sie nahmen ihn gefangen, erstickten ihn, trieben ihn in den Wahnsinn.
Lydia war zu dem Schluss gekommen, dass er gegen die Einsamkeit gekämpft, sich nach einer Gemeinschaft gesehnt hatte, nach einer Bruderschaft des Elends. Er symbolisierte das Böse für sie. Nicht das kosmische oder religiöse Böse, er war kein Teufel, sondern das Böse, das aus einer kranken Psyche und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit entspringt. Das ehemalige Opfer ist der rücksichtsloseste Täter.
Aber dieser Killer … wie sieht sein Plan aus? Was haben diese Menschen ihm bedeutet? Lydia fuhr schnell und schnitt die Kurven, während vor ihr die Gesichter von Shawna, Christine, Harold und Maria auftauchten. Normalerweise erspürte sie das Motiv recht schnell, so wie im Fall der Cheerleader-Morde. Alle Opfer hatten sich ähnlich gesehen und waren zickig und eingebildet gewesen. Aus diesen Gemeinsamkeiten hatte Lydia ableiten können, was die Täterin angezogen hatte. Aber hier kam sie nicht weiter. Sie war überzeugt, dass die Kirche den Dreh- und Angelpunkt des Rätsels bildete, aber sie verstand nicht, was die Opfer darüber hinaus verband, was sie für den Täter interessant gemacht hatte.
Sie entspannte ihre Hände am Lenkrad und fühlte sich schlagartig müde. Ihre Finger schmerzten. Lydia seufzte und bewegte den Kopf hin und her, um die Nackenmuskeln zu entspannen. Sie hatte immer schon für ihre Arbeit gebrannt, aber diesmal war es anders. Es war, als hätte ihr Herz das Kommando übernommen, nicht ihr Hirn. Vielleicht hatte Jeffrey deswegen gesagt, so hätte er sie noch nie erlebt. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Sie klärte nicht nur ein mögliches Verbrechen auf, sondern versuchte mit aller Macht, weiteres Übel zu verhindern. Und wenn sie versagte … nein, das durfte nicht sein. Zu versagen kam nicht in Frage.
FÜNFZEHN
E s war schon fast zehn Uhr abends, als Lydias Cabrio auf den Schotterparkplatz hinter Smokey’s Sports Bar einbog. Das heruntergekommene Gebäude war die Karikatur einer miesen Spelunke an einem verlassenen Highway. Die schiefen, grauen Holzplanken waren mit Graffiti übersät. Ein paar Pick-ups, manche mit Gewehr an der Rückwand der Fahrerkabine, warteten geduldig auf ihre betrunkenen Fahrer, die es auch heute Abend hoffentlich an einem Stück bis nach Hause schaffen würden. Mein Gott, wie trostlos, dachte Lydia, als sie das flackernde Neonschild erblickte. Die meisten Buchstaben waren kaputt und nie ersetzt worden, so dass im Dunkeln nur noch »M…E…S…S« aufleuchtete.
»Wie wahr«, murmelte Lydia, riss sich zusammen und stieg aus dem Auto. Im selben Moment klingelte ihr Handy.
»Was ist?«, fragte sie und ließ sich auf den Ledersitz zurücksinken.
»Ich habe mich bloß gefragt, wo du steckst.«
Sie lächelte, als sie Jeffreys Stimme erkannte. Hoffentlich war er nicht mehr sauer. Sie wusste, manchmal konnte sie wirklich eine Zicke sein, und sie war ihm dankbar, dass er ihr jedes Mal verzieh.
»Ich bin vor Smokey’s Sports Bar. Ich dachte mir, ich genehmige mir ein paar Drinks und reiße jemanden auf.«
»Klingt super! Bist du immer noch böse auf mich?«
»Nein. Du auf mich?«
»Du weißt, dass ich dir niemals lange böse sein kann. Außerdem hattest du Recht.«
Jeffrey schwieg für einen Moment, dann fügte er hinzu: »Ihr Herz war nicht mehr da, Lyd. Es wurde mit chirurgischer Präzision entfernt.«
»Wie bei Lucky.«
»Ja. Hast du irgendwas herausgefunden?«, fragte er.
»Ich glaube schon. Ich habe mit Greg geredet. Wie sich herausstellte, war Shawna oft in der Kirche zum Heiligen Namen. Außerdem hat sie vor ihrem Verschwinden gesagt, ihr wäre ein grüner Minivan aufgefallen.« Sie hörte, wie Jeffrey in seinen Unterlagen blätterte.
»Das höre ich zum ersten Mal.«
»Er sagt, sie hätte ihn beiläufig erwähnt. Wahrscheinlich ist es bedeutungslos, aber falls ein grüner
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