Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten
essen, wurde ihr durch Selinas Stimme, die aus Annes Zimmer drang, bestätigt. Anne hatte das Radio abgeschaltet und die beiden unterhielten sich. Selina lag wahrscheinlich in ihrer lässigen Art der Länge nach auf Annes Bett. Das wurde ganz deutlich, als Selina langsam und feierlich die ‹Beiden Leitsätze› herzusagen begann.
Die ‹Beiden Leitsätze› waren eine simple Morgen- und Abendübung, wie sie die Leiterin eines Kursus für Haltung vorschrieb, den Selina kürzlich im Korrespondenzwege belegt hatte, zwölf Stunden für fünf Guineas. In diesem ‹Kursus für Haltung› versprach man sich viel von Autosuggestion und empfahl berufstätigen Frauen, die sich eine körperlich-seelische Ausgeglichenheit erhalten wollten, zweimal täglich die beiden folgenden Sätze zu wiederholen:
‹Haltung ist vollkommenes Gleichgewicht, eine Ausgeglichenheit von Körper und Geist, vollkommene Gelassenheit in jeder gesellschaftlichen Situation. Elegante Kleidung, makelloses Gepflegtsein und ein vollendetes Benehmen tragen dazu bei, Selbstvertrauen zu gewinnen.›
Sogar Dorothy Markham unterbrach ihr Geplapper jeden Morgen um acht Uhr dreißig und jeden Abend um sechs Uhr dreißig für ein paar Sekunden aus Respekt vor Selinas Leitsätzen. Die ganze oberste Etage war voller Respekt. Das hatte immerhin fünf Guineas gekostet. Die beiden unteren Etagen verhielten sich gleichgültig. Aber aus den Schlafsälen schlichen die Mädchen auf die Treppenabsätze hinaus, um zu lauschen. Sie wollten ihren Ohren nicht trauen und merkten sich in wilder Freude jedes Wort, um ihre Freunde von der Air Force damit zum Lachen zu bringen, bis zur völligen Ermattung, wie man in diesen Kreisen zu sagen pflegte. Gleichzeitig aber beneideten die Schlafsaal-Mädchen Selina, denn sie wußten ganz genau, daß sie – was gutes Aussehen anging – nie an sie heranreichen würden.
Die ‹Leitsätze› waren gerade verklungen, als Jane das restliche Stück Schokolade aus Sicht- und Reichweite geschoben hatte. Sie wandte sich wieder ihrem Brief zu. Sie hatte Tb. Sie hustete delikat und blickte sich im Zimmer um. Es enthielt einen Waschtisch, ein Bett, eine Kommode, einen Schrank, einen Tisch und eine Lampe, einen Korbstuhl, einen harten Stuhl, ein Bücherbord, einen Gasofen und eine Gasuhr mit einem Schlitz, um das verbrauchte Gas zu registrieren, Shilling für Shilling. Jane hatte das Gefühl, ihr Zimmer könne gut das eines Sanatoriums sein.
«Ein letztes Mal noch», ertönte Joannas Stimme aus der Etage darunter. Sie übte mit Nancy Riddle, die zur Zeit ganz gut mit den elementaren englischen Vokalen fertig wurde.
«Und noch einmal», sagte Joanna. «Wir haben gerade noch Zeit bis zum Abendbrot. Ich lese den ersten Vers, dann fällst du ein.»
Unterm Dachfirst, da liegen die Äpfel in Reih’n,
Und das Oberlicht läßt das Mondlicht herein,
Und Äpfel sind’s, wie Tiefsee-Äpfel so grün.
Und Herbstnacht ist’s und die Mondwolken zieh’n.
4
Es war im Juli 1945, drei Wochen vor den allgemeinen Wahlen.
Unter dunklem First sie liegen in Reih’n,
Auf sich biegendem Holz und im Silberschein,
Mondlichterleuchtet die Äpfel des Traums. Kein
Laut auf der Treppe darunter.
«Ich finde, sie sollte beim ‹ Schiffbruch der Deutschland› bleiben.»
«Wirklich? Ich mag die ‹Mondlichtäpfel› lieber.»
Wir kommen jetzt zu Nicholas Farringdon in seinem dreiunddreißigsten Jahr. Es hieß, er sei Anarchist. Niemand im May of Teck Club nahm das ernst, denn er sah eigentlich ganz normal aus. Das heißt, er wirkte ein ganz klein wenig haltlos, so eben, wie ein Sohn aus guter englischer Familie, der die in ihn gesetzten Hoffnungen enttäuscht hatte. Und ein solcher war er ja auch. Kein Wunder, daß, als er Cambridge Mitte der dreißiger Jahre verließ, alle seine Brüder – zwei Buchhalter und ein Dentist – fanden, er sei leider ein Versager.
Jane Wright wollte von Rudi Bittesch, der ihn in den dreißiger Jahren gut gekannt hatte, Auskunft über ihn haben. «Kümmern Sie sich lieber nicht um ihn, er ist nebenbei bemerkt ein Wirrkopf», meinte der. «Ich kenne ihn genau, er ist ein guter Freund von mir.» Von Rudi erfuhr sie, daß Nicholas sich vor dem Kriege nie entscheiden konnte, ob er in England oder in Frankreich leben und ob er Männer oder Frauen vorziehen sollte, da sich leidenschaftliche Episoden mit den einen wie mit den anderen abwechselten. Ebensowenig konnte er sich darüber klarwerden,
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