Maedchenjagd
sie meint, sie sollte verheiratet sein, das macht die Trennung noch trauriger.« Er machte eine Pause und trank einen Schluck Wein. »Was ihr Vorhaben angeht, das Studium hinzuwerfen, denke ich, dass sie einfach völlig ausgebrannt ist. Stanford ist hart. Ich prophezeie dir, dass sich das Blatt bereits gewendet hat, wenn du hinkommst.«
Lily sah ihm in die Augen. »Ich verstehe einfach nicht, warum sie nicht mit mir sprechen will.«
»Sie hat mit dir gesprochen.«
»Ich meine jetzt, Chris. Sie weiß doch, dass ich mir Sorgen mache. Sie könnte wenigstens den Anruf beantworten.«
»Wahrscheinlich ist sie mit Freunden ausgegangen.«
»Aber sie hat nur ein Handy«, erklärte Lily. »Sie nimmt es überallhin mit.«
»Vielleicht hat sie vergessen, es aufzuladen.« Er machte eine Pause und dachte nach. »Hat sie jemals versucht, sich etwas anzutun?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Schon der Gedanke ließ Lily erschaudern. Shana und sie hatten so viel gemeinsam durchgestanden. Wenn man mit einem Kriminellen ums Überleben gekämpft hatte, dann schien der Gedanke an Selbstmord beinahe wie ein Sakrileg.
Lily hatte es überrascht, wie robust sich ihre Tochter erwiesen hatte. Sie hatte den Schrecken dieser Nacht überwunden und war stark gewesen, hatte sich Ziele in ihrem Leben gesteckt und sie all die Jahre verfolgt. Warum wollte sie das alles hinwerfen? Sie war nicht jemand, der leicht aufgab. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung.
»Gestern war sie so feindselig«, sagte Lily und fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Weinglases. »Wir haben uns nicht immer gut verstanden, als sie ein Kind war. Ihr Vater hat sie gegen mich aufgehetzt. Vermutlich dachte er, er könnte dadurch die Scheidung verhindern. Ihm war klar, dass Shana sich für ihn entscheiden würde, weil er sie verwöhnte und ihr alles durchgehen ließ. Er hatte recht, weißt du. Kannst du dir vorstellen, wie schrecklich es für mich war, dass mein eigenes Kind nicht bei mir leben wollte?«
»Nur ein schwacher, unsicherer Mann konnte so etwas tun, Lily«, sagte Chris. »Egal, was war, man darf niemals die Mutter der eigenen Kinder derart verunglimpfen. Bei Scheidungen passiert das dauernd, und es macht mich krank. Meistens benutzt die Frau ihre Kinder, um den Ehemann im Streit um das Sorgerecht zu demütigen. Denk mal darüber nach, was es über Shanas Vater aussagt.«
»Nach der Vergewaltigung waren wir uns sehr nah, aber es hat nicht lange angedauert. Ich wollte Shana nach Stanford schicken, aber ihr war die UCLA lieber, weil sie dann bei ihrem Vater in Los Angeles leben konnte.«
»Warum mochte sie Bryce nicht?«
»Sie konnte ihn einfach nicht ertragen«, erklärte Lily. »Sie stritten sich und hackten aufeinander herum wie Kinder. Später kam ich zu der Überzeugung, dass sie vielleicht mehr Menschenkenntnis besaß als ich.«
»Das bezweifle ich, Lily.«
»Wie auch immer, letztes Jahr hörte sie auf, regelmäßig anzurufen. Ich habe einfach angenommen, dass sie all ihre Freizeit mit Brett verbrachte.«
»Wahrscheinlich war es so.«
Ohne darauf einzugehen, redete Lily weiter. »Ich habe ein paarmal vorgeschlagen, sie zu besuchen, aber sie sagte immer, dass sie zu beschäftigt mit der Uni sei. Auch für mich war das letzte Jahr schwierig. Bryce und ich haben uns scheiden lassen, und du weißt, was dann alles passiert ist. Mein Gott, diese schreckliche Frau hätte mich fast umgebracht, und du meinst, ich besäße Menschenkenntnis?«
Chris schenkte Lily Wein nach. »Deine Tochter hat Schreckliches durchgemacht. Wenn sie darüber hinweggekommen ist ohne Selbstmordgedanken, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie jetzt daran denkt. Sie hat doch nichts in der Richtung gesagt, oder?«
Lily war zu nervös, um sitzen zu bleiben. Sie trat an das Balkongeländer und blickte hinaus auf das Meer, beobachtete, wie ein Paar Hand in Hand ans Wasser ging. Nebel war aufgezogen, und sie konnte nicht viel weiter als bis zur Küstenlinie sehen, doch das Geräusch der Brandung beruhigte sie. Chris stand auf, stellte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Hüfte. »Sie sprach davon, dass sie sich umbringen würde, wenn sie das Examen nicht besteht.«
Chris lachte. »Das war bestimmt nur so eine Redensart. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ähnlich dahergeredet. Alle tun das. Du stehst derart unter Druck. Und die Anwaltsprüfung in Kalifornien ist verdammt fies. Sogar ich bin das erste Mal durchgefallen. Von wegen Panik. Ich war mein Leben lang
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