Maedchenjagd
nirgends durchgefallen.«
Lily war überrascht. »Aber hast du nicht als Bester deiner Klasse abgeschnitten?«
»Schon, aber denk dran, ich war noch ein Kind. Außerdem bin ich gar nicht so schlau, wie alle denken. Ich habe einfach ein verdammt gutes Gedächtnis. Ich kann mir alles merken. Wenn mir aber die Frage vorher noch nicht untergekommen ist oder irgendwie anders gestellt wird, dann bin ich verloren.«
»Das glaube ich dir nicht. Du sagst das nur, damit ich mir weniger Sorgen um Shana mache. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass du Probleme mit dem Examen hattest, weil du noch so jung warst. Wie viele Leute machen mit achtzehn einen Harvard-Abschluss? Mein Gott, Chris, du bist ein Genie. Du kannst dich nicht blöd stellen, damit kommst du bei mir nicht durch.«
Für eine Weile verstummten sie beide. Dann sagte Chris: »Es heißt, dass bei Opfern von Gewaltverbrechen, insbesondere von Sexualverbrechen, die Ereignisse zu einem späteren Zeitpunkt wieder hochkommen. Vielleicht geht es Shana gerade so.«
Lily drehte sich zu ihm um und lehnte sich an das Geländer. »Ich glaube nicht an das Gerede um verdrängte Erinnerungen. Wenn dir etwas Schreckliches zustößt, auch als Kind, dann vergisst du es nicht einfach und erinnerst dich Jahre später plötzlich wieder daran. Den Blödsinn haben sich die Seelenklempner ausgedacht.«
»Aber es gibt Dutzende solcher Fälle. Immer wieder sind Männer oder Frauen aufgrund von jahrelang verdrängten Erinnerungen verurteilt worden. Manche davon müssen doch stimmen, oder?«
In manchen Fragen war Lily kompromisslos. »Vielleicht stimmt es in einem von tausend Fällen. Wenn ein Kind unter fünf Jahren missbraucht wurde, vergisst es das vielleicht, aber dann bleibt es auch dabei. Oft ist es doch so, dass eine Frau Depressionen kriegt, weil die Ehe zerbricht oder sie mit dem Älterwerden nicht fertigwird. Vielleicht ziehen die Kinder aus, oder sie glaubt, dass ihr Mann sie betrügt. Dann macht sie eine Therapie, und ehe sie es sich versieht, hat der Psychologe ihr eingeredet, dass sie als Kind missbraucht wurde und dass das der Ursprung aller Probleme ist.« Sie hob den Finger hoch. »Vergiss nicht, viele Therapeuten benutzen Hypnose. Unter Hypnose ist der Mensch sehr leicht zu beeinflussen. Erinnere dich an den Fall im McMartin-Kindergarten. Diese Leute haben die Hölle erlebt, und es waren alles nur Lügen.«
»Das ist interessant.« Chris steckte die Hände in die Taschen seines Bademantels. »Mir war gar nicht klar, was für eine Skeptikerin du bist, Lily. Du wärst eine gute Wissenschaftlerin geworden. In der Wissenschaft gilt, dass nichts existiert, was nicht bewiesen ist.«
Bevor sie ein Paar wurden, hatte Chris Lily erzählt, dass er noch ein paar Jahre Richter bleiben und dann Theoretische Physik studieren wolle. »Wann willst du übrigens deinen Job aufgeben und mit dem Physikstudium an der Technischen Hochschule beginnen?«
»Wahrscheinlich nie«, antwortete er. »Ich habe ein besseres Spielzeug gefunden.«
»Ja? Und was?«
Er lächelte verführerisch. »Dich.«
Sie streckte die Hand aus und zwickte ihn in den Po. »Du wirst immer sexbesessener.«
»Es wird kalt.« Er verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper. »Gehen wir rein und kuscheln uns unter die Decke.«
Starker Wind war aufgekommen, und Lily hörte nicht, was er sagte. Wenn eine Sache schiefging, dann rechnete Lily damit, dass alles andere um sie herum auch in Scherben ging. Es waren zu viele schlimme Dinge in ihrem Leben passiert. Sie hatte zu viele Fehler gemacht und zu viele Menschen hintergangen, sie hatte die größte Sünde begangen, die ein Mensch begehen konnte. Chris würde sie womöglich verlassen, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Vielleicht wäre es das Beste, es jetzt zu beenden. Aber das konnte sie nicht. Sie liebte ihn zu sehr. Sie liebte es, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen, seinen warmen Körper zu spüren und zu wissen, dass sie ihn bei der Arbeit sehen und am Abend mit ihm nach Hause fahren würde. Doch sie war Pessimistin, und er war ein Optimist. Für sie war das ganz wunderbar, aber sie machte sich Sorgen um ihn.
Als Katholikin wusste sie, wohin sie nach dem Tod kommen würde. Und sie wusste auch, dass es eine Hölle gab, denn sie hatte sie erlebt. Sie konnte nur hoffen, irgendwie der Hölle zu entgehen und stattdessen im Fegefeuer zu landen. Vielleicht könnte sie irgendwann nach zehntausend Jahren in den Himmel hinüberwechseln. Sie würde es nicht besser machen,
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