Maedchenjagd
das Klemmbrett auf, das er auf dem Sofa neben sich abgelegt hatte, schlug die Beine übereinander und begann zu lesen. »Dann schauen wir mal«, sagte er und gähnte. »Sie haben eingeräumt, in hohem Maße Drogen, insbesondere Methamphetamine, zu nehmen. Sie hatten an Armen und Beinen offene Wunden. Ihre Mutter hat angegeben, dass Sie unter wahnhaften Störungen litten, nicht mehr zur Uni gegangen sind und sich in ihrer Wohnung eingekapselt hatten.« In der Art, wie er die Akte zuklappte, lag eine gewisse Endgültigkeit. »Ich glaube nicht, dass Sie irgendjemanden verklagen oder dass Sie in der nächsten Zeit irgendwohin gehen werden. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, dann kann Ihre Zeit hier in Whitehall durchaus gewinnbringend sein, sogar angenehm. Wenn Sie sich allerdings weiterhin gegen die Behandlung wehren, wissen Sie ja, was Ihnen blüht. Sie waren schon einmal in der Psychiatrie.«
»Moment.« Shanas Puls raste. »Ich habe nie gesagt, dass ich Drogen nehme. Selbst wenn ich welche nehmen würde, was nicht stimmt, dann hätte ich das bestimmt an einem Ort wie diesem hier niemandem gegenüber eingestanden. Sehen Sie doch her«, fügte sie hinzu und streckte ihre Arme aus, »ich habe auch keine Wunden. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.« Plötzlich fielen ihr Lees geflüsterte Worte wieder ein. »Sie haben mir das falsche Medikament gegeben, nicht wahr? Sie haben mir etwas gegeben, das mich beinahe umgebracht hätte.«
»Wir wollen Ihnen helfen, Shana«, sagte Morrow. »Ich weiß, dass Sie nicht schlafen konnten. Jetzt, da Sie keine Drogen mehr nehmen, werden Sie über kurz oder lang wieder zu einem normalen Schlafrhythmus zurückfinden. Bis es so weit ist, habe ich Ihnen sehr gute Arznei verordnet.« Er lächelte und entblößte eine Reihe von Zähnen, die etwa die Größe von Klaviertasten hatten. »Alles wird Ihnen leichter fallen, sobald Sie wieder ordentlich schlafen können.«
Morrow stand auf und wandte sich zum Gehen, doch Shana rief ihn zurück.
»Wenn ich wirklich Meth-abhängig wäre, dann würde ich jetzt doch völlig zusammenklappen. Von den Drogen, die Sie mir gegeben haben, mal abgesehen, geht es mir gut.«
»Sie haben den Entzug schon hinter sich, Shana. Es ist keine angenehme Erfahrung und daher nicht ungewöhnlich, dass Sie sie verdrängt haben. Das Medikament, das Sie meinen, soll Krampfanfälle während des Entzugs verhindern. Ruhen Sie sich aus. Ich komme morgen vorbei und sehe nach Ihnen.«
Shana blieb auf dem Sofa sitzen, sah zu, wie er ihre Akte in einem Metallgestell an der Schwesternstation ablegte, und wartete ab, bis der Summer ihn durch die verschlossenen Sicherheitstüren gelassen hatte. Es war eine Art Gehirnwäsche, sie wollten ihr irgendeinen Blödsinn einreden. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Sie war schon einmal an einem solchen Ort gewesen und wusste, wie er funktionierte. Neue Patienten wurden in einen Isolationstrakt gelegt, wo man jede Bewegung beobachten konnte. Sobald sie zu den anderen Patienten käme, würde sie sich etwas ausdenken, um rauszukommen.
Sie torkelte in ihr Zimmer und warf sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett. Wenn nur ihr Vater noch lebte. Er hätte es niemals zugelassen, dass man sie wie einen Verbrecher einsperrte. Tag für Tag vermisste sie ihn und wünschte sich, er wäre bei ihr. Er war so viel mehr als ein Vater für sie gewesen. Er war ihr bester Freund gewesen, das hatte ihre Mutter nie verstanden.
Die Leute sagten, dass die Trauer mit der Zeit erträglicher wurde, doch es war nun schon neun Jahre her, und die Wunde war genauso schmerzlich und frisch wie an dem Tag, an dem ihr Vater gestorben war. Unverändert brannte der Hass in ihr auf den Mann, der sie vergewaltigt und ihren Vater ermordet hatte, und vergiftete jeden Teil ihres Lebens.
Sie war über die Vergewaltigung hinweggekommen. Es war nicht einfach gewesen, doch weil sie geglaubt hatte, dass ihre Mutter den Vergewaltiger getötet hatte, hatte sie die permanente Angst vor seiner Rückkehr ablegen können. Sie dachte an den schrecklichen Tag, an dem ihr Vater gestorben war. Sie hatte ihre Mutter in Santa Barbara besucht, obwohl sie doch eigentlich zu Hause bei ihrem Vater hätte sein sollen. Besonders schmerzlich war das Bewusstsein, dass er allein gestorben war. Wenn sie bei ihm in Los Angeles gewesen wäre, hätte sie vielleicht etwas tun können, um ihn zu retten.
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11
Frühling 2000
Los Angeles, Kalifornien
A uf der Fahrt zu seiner Wohnung machte
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