Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi
Sexualverbrechen handelt, keine Probleme hat, sich zu distanzieren. Sie geht professionell damit um, beinahe selbstverständlich, wenn es nicht zynisch wäre, dieses Wort zu gebrauchen. Wie anders war das noch vor drei Jahren, als die drei kleinen Mädchen verschwanden. Fast wäre Silja daran zerbrochen, ihre ganze Familiengeschichte kam wieder hoch. Damals hat Bastian sie gerettet. Ihm, ausgerechnet dem fremden Kollegen vom Festland, hat sie alles erzählen können. Niemand sonst hatte bis dahin von der Tragödie gewusst. Bastian hat sie damals verstanden, er hat sie getröstet und aufgebaut. So ist ihre Beziehung entstanden. Zwei Jahre hat die Liaison gehalten, vor einem knappen Jahr haben Bastian und sie sich getrennt.
Bisher war die Erinnerung daran schmerzlich für Silja, doch nach dem Wochenende mit Judith hat sich irgendetwas verändert. War es das Gespräch über Judiths pikanten Nebenjob? Silja wirft die Serviette, in die das Fischbrötchen gewickelt war, in einen der vielen Papierkörbe. Sie ist jetzt ziemlich genau an der Stelle angekommen, wo Sibylla Polenz’ toter Körper im Strandkorb gefunden worden ist. Was hat man mit dem Strandkorb gemacht, nachdem die Truppe von Leo Blum mit ihm fertig war? Steht er jetzt wieder hier unten? Sitzt vielleicht die üppige Barbusige dort hinten darin, oder sind es die beiden Kinder hier links, die gerade fröhlich lachend versuchen, das Dach zu erklimmen und dabei immer wieder in den Sand purzeln? Und wäre das gut oder schlecht? Wäre es besser, würde es irgendetwas helfen, wenn man diesen Strandkorb aus dem Verkehr gezogen hätte?
Silja zeigt dem Kurkartenkontrolleur ihre Einwohnerkarte und steigt hinunter zum Strand. Sie streift die Sandalen von den Füßen und läuft zwischen den Strandkörben hindurch bis zur Wasserkante. Viele Blicke folgen ihr, denn sie ist mit der eleganten Designerjeans und der strengen Bluse nicht besonders angemessen für den Strand gekleidet. Silja kümmert sich nicht darum. Sie denkt noch einmal über das Gespräch mit Judith nach. Hat es mehr an ihrer Sicht auf die Beziehungen der Geschlechter verändert, als sie wahrhaben will? Es war immerhin das erste Mal, dass sie mit einer Frau gesprochen hat, die sich explizit als die Stärkere den Männern gegenüber wahrnimmt. Bisher hat Silja Frauen immer für potentielle Opfer gehalten, das wird ihr jetzt klar. Judith aber ist ganz bestimmt kein Opfer. Judith hat sich entschieden, die Kontrolle zu behalten, und es scheint ihr gut zu gelingen. Nachdenklich fährt Silja mit den nackten Füßen durch den nassen Sand. Sie hinterlässt Spuren, die so flüchtig sind, dass schon die nächste Welle sie zunichte machen wird. Das ist traurig, aber ist es nicht auch schön? Ist es nicht ein Symbol für den Neuanfang, der immer wieder möglich ist?
Silja kann nicht verhindern, dass ihre Gedanken zu Bastian wandern. Aber einlassen will sie sich darauf nicht. Noch nicht, vielleicht. Sie hebt den Kopf, blinzelt in die Sonne und spürt das Wasser um ihre Knöchel fließen. Auf und nieder, auf und nieder. Das Leben ist schön, denkt Silja, auch wenn es manchmal fast unerträglich grausam sein kann. Mein Leben ist schön, jedenfalls in diesem Moment.
Montag, 20. Juni, 17.00 Uhr,
Kriminalkommissariat Westerland
»In ihrer Wohnung ist Sybilla Polenz jedenfalls nicht umgebracht worden«, schließt Bastian Kreuzer seinen ausführlichen Bericht von der Hausdurchsuchung. Der Hauptkommissar steht mit dem Rücken zum Fenster und kümmert sich nicht darum, dass Sven Winterberg genauso ins Gegenlicht schauen muss, wie Silja Blanck und Leo Blum, die ebenfalls im Raum sind.
»Und diese Birgit Westermür war es definitiv auch nicht.« Sven zieht einen schmalen Block mit Notizen aus seiner Hosentasche. »Keine Ahnung, warum sie uns den Bären mit ihrer dementen Mutter aufgebunden hat. Die Mutter gibt es zwar, und dement ist sie auch, aber natürlich hat die Westermür nicht die Nacht im Altenheim verbracht, wie sie behauptet hat.«
»Aber dann hätte sie doch schon mal ein Motiv, nämlich Eifersucht, und kein Alibi dazu«, unterbricht ihn Silja.
»Lass mich doch mal ausreden, ja? Ich habe gründlich in Birgit Westermürs Nachbarschaft recherchiert. Diese Reihenhäuser sind so gut wie aus Pappe, da hört man jedes Wort. Und in der Mordnacht hatten die Nachbarn von Frau Westermür einiges zu hören. Sie muss wohl so etwas wie einen hysterischen Anfall gehabt haben. Jedenfalls hat sie zunächst ewig lange telefoniert
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