Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi
am vorigen Freitag bei der letzten Sitzung war der Typ wie ausgewechselt. Fahrig, nervös und unkonzentriert.
Aber was geht ihn das eigentlich an?
Doch das Bedürfnis, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, lässt sich schlecht unterdrücken.
»Na ja, es ist mir schon mal besser gegangen«, murmelt Fred und legt mehr Dramatik in seine Stimme, als eigentlich nötig gewesen wäre. »Ich habe Ihnen doch von meinem Projekt erzählt, oder?«
»Das Buch über diesen Behrmann, ich erinnere mich.«
»Der Typ lässt mich hängen, und das macht mich so was von mutlos«, übertreibt Fred.
»Was heißt mutlos genau?«, erkundigt sich sein Analytiker mit angespannter Stimme.
»Ich weiß auch nicht. Nichts klappt. Also, wenn Sie jetzt auch noch meine Therapiesitzung absagen wollen …«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint.« Fred hört hektisches Blättern am anderen Ende des Anschlusses und sieht den altertümlichen Pultkalender Manfred Pabsts fast plastisch vor sich. »Ich könnte Ihnen einen Ersatztermin gleich morgen Abend anbieten, wenn Sie wollen. Nur am Freitag geht es in dieser Woche eben nicht.«
»Morgen?« Fred lässt den Analytiker ein bisschen zappeln. Der atmet schwer durchs Telefon. Dir ist aber eine mächtige Laus über die Leber gelaufen, denkt Fred noch, dann lenkt er ein.
»Morgen Abend, okay. Und die Uhrzeit?«
»Acht?«
»Sehr schön. Ich werde da sein.«
Anstatt sich gleich wieder in den Spiegel -Artikel zu vertiefen, versucht Fred noch ein paar Minuten lang, sich vorzustellen, was diesen beherrschten und sonst so knochentrocken wirkenden Typen wohl aus der Ruhe gebracht haben könnte. Ob er in einer Beziehung lebt? Fred weiß es nicht. Und im Gegensatz zu dem Klischee eines Therapiepatienten, der ja wohl immer bestrebt ist, so viel wie möglich über das Privatleben seines Therapeuten herauszufinden, hat ihn das auch nie interessiert. Dass er jetzt anfängt, darüber nachzudenken, nimmt Fred einfach als ein weiteres Zeichen dafür, dass seine psychische Situation sich stabilisiert. Er schaut nicht mehr nur zwanghaft nach innen, sondern beschäftigt sich immer häufiger mit seiner Außenwelt. In zwei Monaten wird sich der grässliche Mord, der im letzten August ausgerechnet in seinem Schlafzimmer stattgefunden hat, zum ersten Mal jähren, und Fred hofft sehr, dass er danach tatsächlich Ruhe vor den Gespenstern der Vergangenheit haben wird.
Bevor er weiter darüber nachgrübeln kann und vielleicht doch noch in Gefahr geraten würde, in eine Depression zu rutschen, zeigt ein helles Klingeln auf seinem MacBook an, dass eine Mail eingegangen ist. Froh über die Ablenkung öffnet Fred den Account. Und als er den Absender sieht, hebt sich seine Laune noch weiter. Jens-Uwe Behrmann hat ihm geantwortet. Endlich! Ungeduldig öffnet Fred die Mail.
Bin sehr interessiert. Hoffe, dass meine bescheidenen Leistungen Sie nicht enttäuschen. Wie wäre es mit einem ersten Treffen noch in dieser Woche? Könnte sogar zu Ihnen nach Sylt kommen.
Na, wenn das kein Erfolg ist. So viel Entgegenkommen hätte Fred nun wirklich nicht erwartet. Schnell überfliegt er seinen Artikelanfang und verwandelt ihn mit wenigen raffinierten Änderungen in die eigentlich geplante Lobeshymne zurück. Dieser Behrmann ist eben doch ein Vollblutpolitiker, schießt es Fred durch den Kopf. Der merkt es mit fast telepathischer Sicherheit, wenn ihm irgendwo Gefahr droht, und macht genau das Richtige.
Fred klickt auf »Antworten«, um dem vielbeschäftigten Politiker so schnell wie möglich ein paar Terminangebote zu mailen.
Montag, 20. Juni, 23.45 Uhr,
Braderuper Weg, Kampen
Sehr leise schließt Sven Winterberg die Haustür hinter sich. Er weiß genau, dass Anja Fragen stellen würde, wenn sie wüsste, dass er zu dieser Zeit noch spazieren geht. Er lenkt seine Schritte auf schnellstem Weg aus dem Ort heraus nach Süden, wo zwischen Watt und Hauptstraße nur Felder und Weiden liegen. Außer dem gelegentlichen traumtiefen Schnaufen eines Galloway-Rindes ist nichts zu hören. Genau die richtige Umgebung, denkt Sven, der schon den ganzen Abend unruhig war und sich kaum auf das Gespräch mit den Freunden konzentrieren konnte, die sie zu Besuch hatten. Jetzt sind die Gäste weg, und das schmutzige Geschirr ist abgeräumt. Anja liegt schon oben im Schlafzimmer und ist hoffentlich längst eingeschlafen.
Aber Sven kriegt den aktuellen Fall einfach nicht aus dem Kopf. Irgendetwas stimmt da nicht. Nur was?
Normalerweise hätte er seine
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