Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Reichsmark. Eine interessante, fremdartig schöne Lektüre, fand ich. Ich habe mir diese, wann immer sich die Gelegenheit bot, verschafft. Mit diebischem Vergnügen steckte ich meine Nase in Tante Liesels Geschäfte.
Altdeutsch, viktorianisch, Intarsien, Chippendale, Paravent.
Wörter sammeln war eine Sucht. Manche Neuerwerbungen konnte ich immerhin grob in Töpfe einsortieren und bestimmen oder erahnen, aus welcher Rubrik des Wissens, aus welchem Land sie stammten. Das Kamel gehört zu Afrika, wie Sahara, Beduinen, Feldmarschall Rommel. Besonders Afrikawörter nahmen in dieser Zeit enorm zu, gefolgt von Russlandwörtern. Das eine oder andere ließ sich in meinem alltäglichen Wortschatz unterbringen und sofort sinnvoll anwenden. «Mama, ich fahre jetzt ins Abendland.» Das hieß, ich gehe ins Bett, und im «Morgenland» würde ich wieder aufwachen. Andere Wörter schwirrten total unverstanden in meinem Kopf umher: «erbkrank», «Parasit», weiß der Himmel, was sie bedeuten sollten. Wiederum andere schienen klar und verschwanden dann wieder im Nebel, das waren häufig solche, nach denen man nicht fragen durfte. «Jud» zum Beispiel, ein Wort, das viele und besonders Tante Liesel hart aussprachen und das oft kombiniert wurde: «Saujud», «Judensau».
Zuerst war die Frage «Was ist ein Jude?» im Kommunionsunterricht aufgetaucht. «Juden sind die Menschen in Palästina, die Jesus gekreuzigt haben», war die Antwort gewesen, so stünde es in der Bibel. Aber das war sehr weit weg und sehr lang her, beinahe zweitausend Jahre. Den Juden, die das getan haben, dachte ich, könnte ich heute nicht mehr böse sein, jedenfalls nicht so sehr, wie es andere Leute offenbar waren. Man spürte, dass der Pfarrer und auch die Schwestern von St. Lioba mit dem Wort mehr als vorsichtig umgingen, es vermieden, in Einzelheiten zu gehen. Wie sahen die Juden aus? Wie haben sie gesprochen und gebetet? Derlei neugierige Fragen, die Kinder normalerweise stellen, waren nicht erwünscht.
Es musste auch heute noch Juden geben, vermutete ich, irgendwo in unserem Freiburg. Definitiv gewusst habe ich es erst, als alles vorbei war, 1945: In der Pfeifferschule hatte ich jüdische Mitschüler. Niemand, der mir persönlich nahe war, weder Klaus, er wohnte in der Nachbarschaft von Juden, noch Ingrid, die 1943 von ihren Eltern in ein Internat geschickt wurde und viel zu früh aus meinem Leben verschwand. Auch Imogen nicht, die kleine Baronesse. Ihre Eltern, erfuhr ich später, gehörten einer Widerstandsgruppe an. In dem Haus, in dem ich mehrfach eingeladen war, sprachen die Erwachsenen oft Englisch oder Französisch miteinander. «Weil sie gegen Hitler sind», erzählte mir Imogen, «und wir Kinder das nicht wissen dürfen.» Ihre Familie hatte einen großen schönen Garten, das gefiel mir, und eine Windhündin, die Junge geworfen hatte, gerade als ich dort zu Gast war und mit Imogen Schularbeiten machte.
«Geh doch nach der Schule zu Imogen», ermunterte mich Mutter.
«Ja. Nein.» Ich täuschte Lustlosigkeit vor. Es war mir zu kompliziert, zu erklären, um was für eine Familie es sich handelt und dass ich nicht kommen darf, wann ich will, sondern nur, wenn die mich rufen. Die sozialen Schranken waren damals unheimlich hoch. Ich wurde eingeladen, weil ich gut lernte und für das Kind aus reichem Hause nützlich sein konnte.
Immer öfter wurde ich jetzt zu Verwandten geschickt. «Du bist die Große, das musst du verstehen», sagte Mutter. Auf ihr lastete das Malergeschäft, das, was davon übrig geblieben war. Inzwischen waren die Gesellen alle im Krieg, nur ein Lehrling war noch da, mit dem ging sie Bunker streichen, hier und da mal eine Küche. Wer Bomben auf sein Haus fürchtet, renoviert nicht. Auch marode Heilige blieben ohne Farbe – selbst wenn jemand eine Maria gebracht hätte, Großvater war jetzt ganz außer Dienst, er wollte nicht mehr, und unsere Mutter hätte es nicht können. Außerdem rief Peter ständig nach ihr, Peter, der Angsthase. Christel in ihrem Kinderwagen schrie nach Möhrenbrei. «Magdalena, du gehst zu Tante Melli.»
Vor der Geburt von Christel, 1941, und in den Wochen danach, als Mutter sehr schwach war und sich erholen musste, war ich zum ersten Mal länger dort gewesen. Im Freiburger Stadteil Günterstal, in der vornehmen Wohnung mit sieben oder acht Zimmern, wo Tante Melanie, kurz «Melli», die ich nicht mochte, über den Onkel Rudolf herrschte, den ich mochte.
Es hatte nicht lange gedauert, bis ich gerochen
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