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Manhattan Blues

Manhattan Blues

Titel: Manhattan Blues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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Wohnung.
    Er läutete, wartete und läutete erneut. Wartete
wieder. Dann ließ er den Finger auf dem Knopf und lauschte dem hohlen
Glockenklang in der Wohnung.
    Mach schon, mach schon, mach schon. Ich weiß, daß du schläfst, aber
bitte komm an die Tür. Bitte.
    Bitte schlaf. Bitte, lieg da drinnen und schlaf. Er öffnete die Tür
mit einem Dietrich und betrat die Wohnung.
    Ihr Bett war leer.
    Anne war verschwunden.
     
    Er verließ die Wohnung. Er durchstreifte die Straßen des Village, um
sie zu suchen. Das Village, wo er an so vielen Sonnabenden nachmittags mit Anne
spazierengegangen war. Das Village, Berlin-Ersatz und ein falsches Paris, der
europäischste Teil dieser amerikanischsten aller amerikanischen Städte.
    Sonnabendnachmittage oder vielmehr - morgen für eine Sängerin und
ihren Liebhaber, herrlich verschlafene postkoitale Spaziergänge zu einem Cafe
und Croissants, im Winter zitternd und eilig auf der Suche nach der Wärme eines
dunklen alten Cafes, im Sommer, um in einem Straßencafe zu sitzen, um bei
Zigaretten und Zeitungen die Leute aus der Gegend vorbeischlendern zu sehen.
Geschäftige italienische Frauen auf dem Weg zum und vom Einkaufen, die Arme
voll mit frischer Wurst, dicken Tomaten und frischem Brot. Alte Juden mit
gemessenem Schritt, in eine Unterhaltung oder eine Diskussion vertieft, mit
Gesichtern so alt wie die Diaspora. Ernste junge Künstler, die den Tag noch vor
sich hatten, junge Mafiosi mit irgendeinem Verbrechen im Kopf, ein Ehepaar,
das einen Hund spazierenführte. Und Anne, die wegen irgendeiner Geschichte in
der Times die Lippen schürzte und die Finger
um den Tassenhenkel krümmte, als sie das Getränk blind an die Lippen führte,
die Lippen, an denen er gerade erst gesaugt hatte. Die erste köstliche
Zigarette des Tages.
    Und die Geräusche. Seine Schuhe im Rhythmus der von Anne. Gutmütige
Debatten zwischen Gemüsehändler und potentiellem Käufer an den Gemüseständen. Dann kaufe
ich eben etwas weiter unten! Bitte, nur zu! Ein Sopran
beim Einüben einer Arie in einer Wohnung im dritten Stock. Ein Radio am
Zeitschriftenkiosk, in dem jemand über Baseballspieler schwadronierte. Rufe
von Kindern, die ringolevio spielten. Ein halbes Dutzend
Sprachen, ein halbes Hundert Dialekte. Und ihre Stimme, Annes Stimme, die mit
ihm über das Neueste sprach, über Politik, Musik, über die Leute, die sie traf,
die Gerichte, die sie aßen, wie sie sich liebten. Oder wenn sie versuchte, für
den Text eines Songs eine neue Phrasierung zu finden. Sweet pushcarts slowly glide by.
    Das Village bedeutete auch Gerüche. Der
typische Duft frischgewaschener grüner Bohnen am Gemüsestand. Oder von
Pfirsichen. Oder der wundervoll beißende Duft grüner Zwiebeln. Das üppige Aroma
einer italienischen Bäckerei. Oder im Sommer der saure Gestank von Müll auf den
Bürgersteigen, wenn der Asphalt sich erhitzte. Der wabernde Zigarrenrauch
eines alten italienischen Mannes in einem Straßencafe. Gerüche in Läden: das
Aroma von Kaffee, feinen Teesorten, von Tabak bei Village Cigars. Der Duft von
Annes Hals — war es nicht Vanille gewesen? — an jenem Julinachmittag, als er
sich auf dem Bürgersteig der Barrow Street plötzlich zu ihr hinübergebeugt
hatte, um sie in den Nacken zu küssen.
    Und der Geschmack vieler Dinge. Italienisches Eis an einem heißen Tag. Oder Spaghetti á la marinara. Dick mit
Butter bestrichenes Brot. Starker Espresso, süßer Rotwein. Und die letzte
herrliche Zigarette des Nachmittags. In Chinatown frische Dimsum und gedämpftes
Brot.
    And teil me what street compares
with Mott Street...
    Und ihr süßer, kräftiger Geschmack, als er sie später an diesem
Julinachmittag auf ihrem von Sonnenschein überfluteten Bett schlürfte.
    Diese Dinge waren das Village für ihn. Sie schienen jetzt, an diesem
grauen, erbarmungslosen Morgen, verschwunden zu sein. Hüte dich, dachte er, vor
den Straßen, auf denen du mit einem geliebten Menschen dahinschlenderst, denn
sie werden nie wieder wirklich dir gehören.
    Anne war nirgends zu sehen. Weder in den Cafes noch in den Bars. Weder
blätterte sie bei Village Cigars in französischen Zeitschriften, noch kaufte
sie frisches Brot in der Patisserie. Sie saß weder auf einer Bank am
Washington Square, noch machte sie einen Schaufensterbummel bei den Boutiquen
der Sullivan Road.
    Nicht da.
    Vielleicht, dachte er, ist sie im Plaza. Vielleicht, dachte er voller
Bitterkeit, sucht sie Trost in den Armen von Marta Marlund, Schauspielerin,
Geliebte und

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