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Marco Polo der Besessene 2

Marco Polo der Besessene 2

Titel: Marco Polo der Besessene 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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einem Yin-Siegel das mani-Gebet. Er setzte mir auseinander, indem er das Gebet dem rinnenden Wasser »aufdrucke« -und das immer und immer wieder -, vergrößere er mit jedem unsichtbaren »Aufdruck« sein frommes Verdienst.
    Ein andermal sah ich auf dem Hof eines Pota-là zwei trapas heftigst miteinander raufen, weil einer von ihnen einer Gebetsmühle einen Anstoß gegeben hatte, sich zu drehen, und dann beim Weitergehen im Zurückschauen gesehen hatte, wie einer seiner Mitbrüder diese angehalten und andersherum hatte drehen lassen, damit sie für ihn bete.
    Hoch über einer der größeren Städte, durch die wir unterwegs kamen, stand eine besonders große lamasarai, und dort faßte ich mir ein Herz und bat um Audienz bei seinem hochverehrten und schmutzigen, saftbeschmierten Groß-lama.
    »Gegenwärtigkeit«, wandte ich mich an den alten Abt. »Ich bemerke eigentlich in keinem Pota-là irgend etwas, das sich mir als priesterliches Tun darstellt. Abgesehen vom Drehen der Gebetsmühlen und dem Rütteln von Gebetsknochen -worin bestehen Eure religiösen Aufgaben eigentlich?«
    Mit einer Stimme, die klang wie das Rascheln fernen Laubs, sagte er: »Ich sitze in meiner Zelle, mein Sohn Hoheit, und bisweilen auch in einer fernen Höhle oder auf einem einsamen Berggipfel und meditiere.«
    »Meditiert über was, Gegenwärtigkeit?«
    »Darüber, daß ich einst mit eigenen Augen den Kian-gan
    kundün schauen durfte.«
    »Und was ist das?«
    »Die Erhabene Gegenwärtigkeit, der Heiligste aller lamas, derjenige, welcher die augenblickliche Inkarnation des Pota ist… Er residiert in Lha-Ssa, der Stadt der Götter, eine lange, lange Reise entfernt von hier, wo die Menschen einen Pota-là für ihn bauen, der seiner wirklich würdig ist. Daran bauen sie jetzt seit über sechshundert Jahren, meinen aber, erst in weiteren vier-oder fünfhundert Jahren damit fertig zu sein. Der Heiligste wird diesen Pota-là mit Freuden mit seiner Erhabenen Gegenwärtigkeit beehren, denn es wird nach seiner Fertigstellung ein überaus prachtvoller Palast sein.«
    »Wollt Ihr damit sagen, Gegenwärtigkeit, daß dieser Kian-gan kundiin seit nunmehr sechshundert Jahren lebt und wartet? Und noch am Leben sein wird, wenn der Palast fertiggebaut ist?«
    »Aber gewiß doch, mein Sohn Hoheit. Selbstverständlich ist es möglich, da Ihr ein ch'hipa seid, einer, der außerhalb des Glaubens steht, daß Ihr ihn nicht so seht. Seine leibliche Hülle stirbt von Zeit zu Zeit, und dann müssen seine lamas das ganze Land absuchen und den jungen Knaben finden, in den seine Seele übergewechselt ist. Deshalb sieht die Erhabene Gegenwärtigkeit physisch immer anders aus, von einem Leben zum anderen. Aber wir nang-pa -wir, die wir im Glauben stehen -, wir wissen, daß er immer derselbe Heiligste aller lamas ist, der reinkarnierte Pota.«
    Nun wollte es mir irgendwie ungerecht vorkommen, daß der Pota, der das Nirvana für seine Anhänger erschaffen und bestimmt hatte, offensichtlich selbst nie in den Genuß kam, dem Vergessen anheimzufallen, und immer wieder zurückgebracht werden sollte nach Lha-Ssa, einer Stadt, die zweifellos genauso scheußlich war wie jede andre in To-Bhot. Ich enthielt mich jedoch einer diesbezüglichen Bemerkung, und gab dem alten Abt gleichsam das Stichwort zurück:
    »Dann habt Ihr also die weite Reise nach Lha-Ssa einmal gewagt und den Heiligsten aller lamas mit eigenen Augen geschaut…?«
    »Jawohl, mein Sohn Hoheit, und dieses Ereignis ist seither unablässig Gegenstand meiner Versenkungen und Meditationenund frommen Übungen. Ihr mögt es vielleicht nicht glauben, aber der Heiligste hat wahrhaftig seine eigenen verschwollenen alten Augen geöffnet und doch tatsächlich mich angeblickt.« Hingerissen in der Erinnerung verzog er das Gesicht zu einem Lächeln. »Ich glaube, wäre der Heiligste damals nicht schon uralt gewesen und hätte er sich nicht seiner nachsten Seelenwanderung genähert, er wäre fast imstande gewesen, alle Kraft zusammenzunehmen und das Wort an mich zu richten.«
    »Ihr und der Heilige habt Euch also nur angesehen? Und das hat Euch seither Nahrung für Eure Meditationen gegeben?«
    »Jawohl, ständig Nahrung. Dieser eine tränende Blick des Heiligsten war der Beginn meiner Weisheit. Achtundvierzig Jahre ist das nun her.«
    »Dann habt Ihr, Gegenwärtigkeit, fast ein halbes Jahrhundert nichts weiter getan, als über dieses eine flüchtige Ereignis zu meditieren?«
    »Ein Mensch, dem die Gnade zuteil geworden ist, den

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