Marco Polo der Besessene 2
Zustände genossen: sich die schönsten Frauen aussuchten und jeden Tag eine andere nähmen. Doch weit gefehlt. Diejenigen, die aussuchten und sich mehr als einen Mann nahmen, waren die Frauen. Die Frauen folgten der bereits vorher von mir beobachteten Sitte: sie paarten sich unbeschwert vor der Ehe mit so vielen zufällig vorüberkommenden Männern wie möglich, verlangten von einem jeden eine Münze, so daß, wenn die Zeit zum Heiraten kam, diejenige Frau mit den meisten Münzen die allerbegehrteste von allen war. Doch die wählte nun nicht den begehrenswertesten Mann in ihrer Gemeinde zum Gatten -sie wählte deren mehrere. Statt daß hier jeder Mann ein Shah mit einem ganzen anderun von Frauen und Konkubinen war, besaß jede Frau einen ganzen anderun voller Männer, und den Legionen ihrer weniger reizvollen Schwestern blieb nichts anderes übrig, denn als alte Jungfern zu versauern.
Man könnte versucht sein zu sagen, nun, das jedenfalls beweist ein gewisses Maß an Unternehmensgeist zumindest von ein paar Frauen. Doch was wollte das schon heißen -denn welcher Art von Männern war es schon, aus der die Frauen ihre Gatten wählen konnten?
Sämtliche Männer, die genügend Ehrgeiz und Energie besaßen, einen Berg zu besteigen, hatten genau das getan und waren im Pota-là verschwunden. Von denen, die zurückblieben, waren diejenigen, die bewiesen, daß sie Männer waren und lebensfähig, für gewöhnlich damit beschäftigt, den Hof der Familie oder die Herde, oder den Handel der Familie weiterzuführen. Infolgedessen heiratete eine Frau, die wählen konnte, was sie wollte, nicht in eine dieser »besten Familien« hinein, sondern heiratete gleich die ganze Familie. So lernte ich eine Frau kennen, die mit zwei Brüdern verheiratet war und mit je einem Sohn von diesen; sie selbst hatte Kinder von allen. Eine andere Frau war mit drei Brüdern verheiratet, während die Tochter, die sie von einem von diesen hatte, die beiden anderen heiratete und noch einen dritten, den sie sich irgendwo außerhalb des Hauses beschafft hatte.
Wie jemand in diesen verworrenen und blutschänderischen Verbindungen jemals weiß, welche Kinder nun von wem sind, ist mir unerfindlich, und ich hege den Verdacht, daß das im Grunde auch niemand interessiert. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die gräßlichen Heiratsgewohnheiten der Bho nicht nur für die allgemeine geistige Schwäche dieses Volkes verantwortlich sind -sondern auch für das Potaismus genannte Zerrbild des Buddhismus sowie für die saft-und kraftlose Anhäufung der »Weisheit aller Zeiten«. Zu dieser Erkenntnis rang ich mich viel später durch, als ich mich mit einigen erlauchten Han-Ärzten über die Bho unterhielt. Denn die sagten mir, generationsla nge Inzucht -wie sie bei Gebirglern häufig ist und bei solchen fanatisch Gläubigen unvermeidlich -müsse ein Volk hervorbringen, das physisch träge ist und unter geschrumpftem Hirn zu leiden hat. Wenn das stimmt -und davon bin ich überzeugt -, dann ist der Potaismus in To-Bhot die Anhäufung des gesamten Schwachsinns aller Zeiten.
3
»Euer Königlicher Vater Kubilai ist stolz darauf, über tüchtige Völker zu herrschen«, sagte ich zu dem Wang Ukuruji. »Warum hat er sich eigentlich jemals die Mühe gemacht, dies elende Land To-Bhot zu erobern und seinem Reich einzuverleiben?«
»Wegen des Goldes, das es hier gibt«, sagte Ukuruji ohne große Begeisterung. »Fast aus jedem Fluß oder Bach in diesem Land läßt sich Goldstaub herauswaschen. Selbstverständlich könnten wir noch viel mehr Gold herausholen, wenn es uns gelänge, die unseligen Bho zu bewegen, Bergbau zu treiben, Schächte zu graben und an die Quellen des Goldes selbst heranzukommen. Aber ihre verfluchten lamas haben ihnen eingeredet, die Goldbrocken und -ädern seien die Wurzeln dieses Metalls. Die dürfe man nicht stören, sonst brächten sie keinen Goldstaub mehr hervor, der ihr Blütenstaub sei.« Er lachte und schüttelte kläglich den Kopf. »Vakh!«
»Neuerlicher Beweis für die absurde Denkweise der Bho«, sagte ich. »Das Land mag was taugen, das Volk jedoch nicht. Und warum hat Kubilai seinen eigenen Sohn dazu verdammt, sie zu regieren?«
»Irgendwer muß es doch tun«, sagte er und zuckte resigniert mit den Achseln. »Die lamas würden Euch vermutlich sagen, ich müsse in irgendeiner meiner bisherigen Daseinsformen ein ganz schreckliches Verbrechen begangen haben, daß ich es verdient hätte, über die Drok und die Bho zu herrschen.
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