Marco Polo der Besessene 2
Vielleicht haben sie recht.«
»Vielleicht«, sagte ich, »gibt Euer Vater Euch statt dessen Yun-nan zu regieren oder noch zusätzlich zu To-Bhot.«
»Das ist es, worauf ich ergebenst hoffe«, sagte er. »Das ist der Grund, warum ich meinen Hof von der Hauptstadt in diese Garnisonsstadt hier verlegt habe -um möglichst nahe am Kriegsgebiet von Yun-nan zu liegen und hier den Ausgang des Krieges abzuwarten.«
Diese Garnisonsstadt, eigentlich ein an einer wichtigen Handelsstraße gelegener größerer Marktflecken namens Ba-Tang, war für mich und meine Eskorte das Ende unserer langen Reise von Khanbalik gewesen, und hier hatten wir auch den von den Vorausreitern von unserem Nahen unterrichteten Wang Ukuruji angetroffen. Ba-Tang lag zwar in To-Bhot, war aber die größte Stadt, die einigermaßen in der Nähe der Yun-nan-Grenze des Sung-Reiches gelegen war. Hier nun hatte der Orlok Bayan sein Hauptquartier aufgeschlagen, von wo aus er wiederholt in südlicher Richtung Vorstöße gegen das Volk der Yi unternahm oder unternehmen ließ. Ba-Tang war nicht von den Bho geräumt worden, doch die Mongolen, welche die Stadt und ihre Außenbezirke sowie das Tal ringsum besetzt hielten, waren fast in der Überzahl. Es waren fünf tomans samt Troß und Frauen, dazu kam noch der Orlok mit seinem vielköpfigen Stab und der Wang mit seinem Hof.
»Ich bin mit Freuden bereit, jederzeit und von einem Tag auf den anderen weiterzuziehen«, fuhr Úkuruji fort, »falls es Bayan jemals gelingt, Yun-nan einzunehmen, und mein Vater mir erlaubt, dorthin zu gehen. Selbstverständlich werden die Yi einem mongolischen Obersten Lehnsherrn zunächst feindselig gegenüberstehen, aber ich begebe mich lieber unter schäumende Feinde als unter die heruntergekommenen Bho.«
»Ihr erwähntet Eure Hauptstadt, Wang. Ich nehme an, Ihr meintet Lha-Ssa, habe ich recht?«
»Nein. Warum?«
»Weil man mir gesagt hat, Lha-Ssa sei Residenz des Heiligsten Aller lamas, der Allererhabensten Gegenwärtigkeit. Ich ging davon aus, Lha-Ssa sei die bedeutendste Stadt des Landes.«
Er lachte. »Jawohl, es gibt den Heiligsten Aller lamas in LhaSsa. Aber auch in einem Ort namens Dri-Kung gibt es einen Heiligsten Aller lamas, genauso wie in Pak-Dup oder in Tsal und noch anderen Städten. Vakh! Ihr müßt wissen, es gibt nicht nur einen schädlichen Potaismus, sondern zahlreiche miteinander rivalisierende Sekten, von denen keine bewundernswürdiger oder verabscheuungswürdiger wäre als irgendeine andere und die jede für sich einen anderen Heiligsten Aller lamas als ihr Oberhaupt ansehen. Aus Konvenienzgründen erkenne ich einen Heiligsten Aller lamas namens Phags-pa an, dessen lamasarai in der Stadt Shigat-Se liegt; deshalb habe ich die zur Hauptstadt gemacht. Nominell zumindest regieren der ehrwürdige Phags-pa und ich das Land gemeinsam, wobei er die geistlichen, ich die weltlichen Angelegenheiten wahrnehme. Er ist zwar ein ganz abscheulicher alter Gauner, aber vermutlich auch nicht schlimmer als all die anderen Heiligsten Aller
lamas.«.
»Und Shigat-Se?« fragte ich. »Ist das als Stadt so schön, wie Lha-Ssa es nach dem, was ich gehört habe, sein soll?«
»Wahrscheinlich«, grunzte er. »Shigat-Se ist ein Misthaufen. Und das ist Lha-Ssa zweifellos auch.«
»Nun«, sagte ich so fröhlich, wie ich konnte, »dann könnt Ihr ja froh sein, zumindest eine Zeitlang in einer schöneren Stadt zu residieren.«
Ba-Tang lag am Ostufer des Flusses Jin-sha, der hier oben ein schäumendes Wildwasser war, das sich brodelnd seinen Weg mitten durch ein breites Tal bahnte; weiter unten, in Yun-nan, nahm er andere Nebenflüsse in sich auf, wurde breiter und mächtiger, bis er schließlich zum kraftvollen Yang-tze anschwoll. Das Ba-Tang-Tal war um diese Jahreszeit ein Wirbel aus Gold und Grün und Blau mit hellen Tupfern anderer Farben darin. Das Blau trug der hohe, vom Wind saubergefegte Himmel bei. Gold war die Farbe der bhoschen Gerstenfelder und zhugan-Haine sowie die zahllosen gelben yurtu-Zelte des Mongolen-bok. Doch jenseits der beackerten und beweideten Flächen war das Tal vom saftigen Grün der Wälder bestimmt -Ulmen, Wacholder und Fichten -, gesprenkelt mit den Farben wilder Rosen, Glockenblumen, Anemonen, Akelei, Iris und vor allem Prachtwinden aller Schattierungen, die jeden Baum und jeden Busch hinaufrankten.
In einer solchen Umgebung würde jede Stadt ins Auge fallen wie eine Geschwulst in einem schönen Gesicht. Da jedoch Ba-Tang das ganze Tal hatte, sich darin
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