Marco Polo der Besessene 2
der erste Tag, an dem keine neuen Krieger zum Feind dazugestoßen sind. Ich meine, jeder Kämpfer in diesem Gebiet von Yun-nan ist jetzt in diesem Tal versammelt -eine Streitmacht von rund fünfzigtausend Mann, ungefähr so viele wie wir selbst auch. Und wenn ich den Oberbefehl über die Yi hätte, würde ich dies enge Tal für den geeignetsten Ort halten, über einen offenbar einzigartig ahnungslosen Eindringling herzufallen. Wie gesagt, gut möglich, daß ich mich irre. Aber mein Kampfinstinkt sagt mir, daß die Yi morgen bei Tagesanbruch angreifen werden.«
»Ein guter Lagebericht, Hauptmann Toba.« Ich glaube, Bayan kannte jeden einzelnen Krieger dieses halben tuk beim Namen. »Und ich bin geneigt, Euch zuzustimmen. Wie steht es mit den Waffenmeistern? Habt Ihr eine Ahnung, wo sie stehen?«
»Zu meinem Leidwesen, nein, Herr Orlok. Es ist unmöglich, mit ihnen in Verbindung zu treten; wir riskieren sonst, ihr Vorhandensein dem Feind zu enthüllen. Ich muß davon ausgehen und bin auch überzeugt davon, daß dem so ist, daß sie hoch in den Bergen mit dem Heer Schritt gehalten und ihre geheimen Waffen jeden Abend neu festgeklemmt und in Bereitschaft gebracht haben.«
»Hoffen wir, daß sie es jedenfalls heute getan haben«, sagte der Bayan und hob den Kopf ein wenig höher, um den Blick über die Berge schweifen zu lassen, die das Tal umringten.
Auch ich tat das. Wenn der Orlok mich weiterhin als für die geheimen Waffen verantwortlich betrachtete, lag es in meinem ureigensten Interesse, daß alles so verlief, wie ich hoffte, daß es verlaufen würde. Tat es das, würden rund fünfzigtausend Bho den Tod finden -und noch einmal so viele Yi. Damit trug ich als jemand, der nicht unmittelbar am Kampf teilnahm und als Christ -ein beträchtliches Maß an Verantwortung. Gleichwohl ging es um den Sieg der Seite, für die ich mich entschieden hatte, und der Sieg würde zeigen, daß auch Gott auf unserer Seite war; damit würden alle christlichen Bedenken wegen der Massenschlächterei beschwichtigt werden. Funktionierten die Messingkugeln nicht, wie sie sollten, würden die Bho trotzdem sterben, die Yi allerdings nicht. Dann mußte der Krieg weitergehen, und das konnte noch mehr christliche Gewissensbisse zur Folge haben -darüber, so viele Menschen dem Tod überantwortet zu haben, auch wenn es nur Bho waren, und dazu noch völlig sinnlos.
Woran mir jedoch hauptsächlich gelegen war, das muß ich zugeben, war die Befriedigung meiner Neugier. Ich war einfach gespannt, ob das flammende Pulver in den Messingkugeln losging und was dabei passierte. Ich sagte mir, daß ich mindestens ein Dutzend sehr vorteilhafte hochgelegene Stellen sah, wo ich die Ladungen untergebracht hätte. Dabei handelte es sich um hochragende Klippen und Gesteinsmassen, die Kreuzfahrerburgen gleich aus dem Wald herausragten und Spalten und Schrunde zeigten, wo Zeit und Wetter an ihnen genagt hatten. Wurden sie plötzlich noch mehr auseinandergerissen, müßten die Klippen eigentlich umfallen und im Fallen riesige Brocken des Gesteins mit sich reißen…
Knurrend stieß Bayan einen Befehl aus, und wir rutschten den Berg mehr hinunter, als daß wir gegangen wären. Unten angekommen, gab er den wartenden Männern Anweisungen:
»Das richtige Heer müßte vierzig bis fünfzig li hinter uns stehen und soll gleichfalls für die Nacht haltmachen. Sechs von euch machen sich jetzt auf und reiten zu ihnen hin. Alle zehn li soll einer von euch sich seitwärts in die Büsche schlagen und dort warten, damit eure Pferde morgen früh ausgeruht sind. Der sechste Reiter sollte vor Sonnenaufgang dort eintreffen. Sag den sardars, sie sollen den Vormarsch nicht wiederaufnehmen. Sag ihnen, sie sollen warten, wo sie sind, sonst könnte der Staub, den die Pferde aufrühren, von hier aus gesichtet werden. Das würde alle unsere Pläne durchkreuzen. Wenn morgen alles planmäßig verläuft, schicke ich als nächsten Hauptmann Toba. Er wird reiten, so schnell er kann, und ihr werdet in Stafetten das Wort an den tuk überbringen. Dann sollen die sardars und das gesamte Heer im gestreckten Galopp herzueilen, um das von den Feinden niederzumachen, was im Tal überlebt hat. Geht es hier jedoch schief… nun ja, dann werde ich Hauptmann Toba eben mit anderen Befehlen losschicken. Und jetzt reitet los!«
Die sechs Mann, die ihre Pferde am Zaumzeug führten, bis sie weit außer Hörweite waren, setzten sich in Bewegung. Bayan wandte sich an den Rest von uns.
»Jetzt wollen wir ein
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