Marco Polo der Besessene 2
durchmißt mit seinen zum Teil reißenden Wassern die ganze Breite von Kithai und bildet eines der beiden großen Flußsysteme dieses Landes. Das andere befindet sich wesentlich weiter im Süden, heißt Yang-tze, Gewaltiger Fluß, und ist ein noch viel mächtigerer Strom.
»Der Yang-tze und dieser Huang«, belehrte mich mein Vater, »bilden nach dem historischen Nil den zweit-und drittlängsten Fluß der gesamten bekannten Welt.«
Spaßeshalber hätte ich meinerseits hinzufügen können, daß der Huang auch der höchste Fluß auf Erden sein müsse. Womit ich sagen will -was man mir selten glaubt -, daß der Huang über weite Strecken hinweg über dem umgebenden Land fließt.
»Aber wie kann das sein?« meldeten die Leute ihren Protest an. »Ein Fluß ist nicht unabhängig von der Erde. Steigt ein Fluß, überflutet er höchstens das umliegende Land.«
Doch das tut der Gelbe Fluß nicht oder höchstens gelegentlich in Katastrophenfällen. Jahre-und generationslang, ja, jahrhundertelang haben die Bauern der Han den Fluß entlang Deiche gebaut, um die Ufer zu festigen. Da jedoch der Huang große Mengen Sickerstoffe mitführt und diese unablässig auf dem Flußbett ablagert, steigt der Wasserspiegel ständig. Aus diesem Grunde mußten die Han-Bauern generations-und jahrhundertelang, ja, über Jahrtausende hinweg die Deiche immer weiter erhöhen. Hätte ich an manchen Stellen in den Fluß hineinspringen wollen, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als zuvor einen Hang hinaufzuklettern, der höher war als ein vierstöckiges Gebäude.
»Aber mögen die Deiche noch so hoch sein, sie sind nichts weiter als festgestampfte Erde«, sagte mein Vater. »Als wir das letztemal hier waren, war gerade ein großes Regenjahr, und da haben wir erlebt, wie der Huang dermaßen anschwoll und so reißend wurde, daß er diese Deiche durchbrach.«
»Ein Fluß, hoch in die Luft gehalten und dann fallen gelassen«, sann ich. »Das muß sehenswert gewesen sein.«
Onkel Mafìo sagte: »Als ob man Zeuge würde, wie ganz Venedig und das gesamte festländische Véneto in der Lagune versänken. Ganze Völker sind in den Fluten umgekommen.«
»Das geschieht Gott sei Dank nicht jedes Jahr«, sagte mein Vater. »Aber doch so häufig, daß es dem Gelben Fluß seinen anderen Namen eingetragen hat - die Geißel der Söhne Hans.«
Doch solange der Fluß ruhig bleibt, wissen die Han ihn durchaus zu nutzen. Hier und da sahen wir am Ufer die größten Räder der Welt: Wasserräder aus Holz und Bambus so hoch wie zwanzig Menschen aufeinander. Am Rand des Rades war eine Fülle von Eimern und Zubern befestigt, die der Fluß sinnvoll füllte, in die Höhe hob und in Bewässerungskanäle entleerte.
An einer Stelle sah ich ein Boot am Ufer liegen, das an beiden Seiten gewaltige, sich drehende Paddelruder aufwies. Zuerst meinte ich, es müsse sich um eine Han-Erfindung handeln, um die von Menschen gehandhabten Paddel zum Vorwärtstreiben des Bootes zu ersetzen. Doch wieder erlebte ich hinsichtlich der hochgerühmten Erfindungsgabe der Han eine Enttäuschung, denn ich erkannte, daß das Boot nur am Ufer festgemacht war und die Paddelräder nur von der Strömung gedreht wurden. Sie wiederum drehten Achsen und Speichen im Bootsinneren, welche einen Mühlstein zum Kornmahlen antrieben. Das Ganze war also nichts weiter als eine schwimmende Wassermühle; das Neue daran war nur, daß sie beweglich war und von einem Ort am Fluß zum anderen verbracht werden konnte, wo Korn geerntet werden und folglich auch zu Mehl gemahlen werden mußte.
Es gab zahllose andere Bootsarten, denn der Gelbe Fluß wies einen dichteren Verkehr auf als selbst die Seidenstraße. Da sie ihre Frachten über so riesige Entfernungen transportieren müssen, ziehen die Han den Wasserweg allem Überlandtransport vor. Das ist wirklich sehr vernünftig, mögen ihre mongolischen Herren sich noch so sehr über die Mißachtung lustig machen, welche die Han den Pferden entgegenbringen. Ein Pferd sowie jedes andere Lasttier frißt auf lange Strecken mehr, als es tragen kann, wohingegen die Flußschiffer auf jedem li nur sehr wenig kraftspendende Nahrung zu sich nehmen. Aus diesem Grund achten und verehren die Han ihre Flüsse zu Recht; sie nennen das, was für uns Abendländer die Milchstraße ist, »Himmelsfluß«.
Auf dem Gelben Fluß gab es viele flache, san-pan genannte Kähne; die Mannschaft eines solchen Lastkahns war eine Familie, für die das Boot gleichzeitig Zuhause, Transportmittel und
Weitere Kostenlose Bücher