Marco Polo der Besessene 2
Reiserwerb darstellte. Die Männer ruderten oder treidelten die Kähne flußaufwärts und übernahmen, wenn die Strömung ihn flußabwärts trug, das Steuern sowie das Be-und Entladen. Die Frauen schienen endlos mit Kochen und Wäschewaschen beschäftigt. Zwischen ihnen spielte eine große Schar kleinerer Jungen und Mädchen, fast alle nackt bis auf einen großen Kürbis, der ihnen mittels Schnur um die Hüfte geschlungen war und der ihnen helfen sollte, nicht unterzugehen, wenn sie, was oft der Fall war, über Bord fielen.
Es gab aber auch viele größere Fahrzeuge, die mit Hilfe von Segeln vorankamen. Als ich unsere Begleiter fragte, wie diese Boote genannt würden, sprachen die Mongolen nachlässig ein Wort aus, das sich wie Dschunk anhörte. Das richtige Han-Wort war, wie ich erfuhr, chuan, was jedoch nur Segelboot ganz allgemein bedeutet; nie lernte ich die achtunddreißig verschiedenen Namen für die achtunddreißig verschiedenen Arten von fluß- und seegängigen Dschunken.
Doch wie dem auch sei, die kleinste war so groß wie eine flämische Kogge, freilich ohne jeden Tiefgang, und sah lächerlich schwerfällig aus wie ein riesiger schwimmender Schuh. Allmählich ging mir jedoch auf, daß so ein chuan nicht, wie die meisten Schiffe im Abendland, die Gestalt eines Fisches nachahmten um fischgleiche Schnelligkeit zu erreichen. Sie richten sich vielmehr der Stabilität auf dem Wasser wegen nach der Gestalt der Ente, und ich sollte später erleben, daß sie ungerührt durch die wirbelndsten Strudel und brodelndsten Wellen des Gelben Flußes hindurchglitten. Vielleicht braucht eine solche chuan, da sie flachbodig und robust gebaut ist, wirklich nur ein Ruder und nicht deren zwei, wie unsere Fahrzeuge -und überdies eines, das mittschiffs am Heck angebracht ist und nur einen einzigen Steuermann braucht. Auch die Segel einer chuan sind merkwürdig; sie können sich nicht aufblähen wie ein Ballon; sie sind in Abständen mit eingenähten Latten verstärkt und sehen eher aus wie gerippte Fledermausflügel. Erweist es sich jedoch als notwendig, die Segelfläche zu verkleinern, werden sie nicht gerefft wie die unseren, sondern wird Lattenrippe um Lattenrippe zusammengefaltet ähnlich wie die Stäbe einer persiana oder Jalousie.
Doch von allen Booten, die ich auf dem Gelben Fluß sah, erscheint mir am bemerkenswertesten immer noch ein kleines schmales Ruderboot, das hu-pan genannt wurde. Es sah lächerlich unsymmetrisch aus, bildete nämlich einen leichten seitlichen Bogen. Nun weist auch eine venezianische gondola eine ganz feine Seitwärtskrümmung auf, um dem Umstand Rechnung zu tragen, daß der Gondoliere immer auf der rechten Seite paddelt, doch ist der Kiel einer gondola so unmerklich gekrümmt, daß es überhaupt nicht auffällt. So ein hu-pan jedoch ist so schief, daß er aussieht wie ein auf die Seite gelegter shimshir-Säbel. Doch auch hier handelte es sich um etwas durchaus Zweckentsprechendes. So ein hu-pan läuft stets in Ufernähe, und da der Ruderer je nachdem die konkave oder die konvexe Seite dem gekrümmten Flußufer zuwendet, gleitet das Fahrzeug leichter um die Flußbiegungen herum. Selbstverständlich muß der Ruderer ständig das Heck gegen den Bug oder den Bug gegen das Heck austauschen, und so sieht es aus, als fege hier aufgeregt ein Wasserläuferinsekt über die Wasseroberfläche.
Es sollte jedoch nicht lange dauern, da konnte ich mich angesichts von etwas noch Merkwürdigerem nicht fassen -und zwar an Land, nicht auf dem Fluß. In der Nähe eines Dorfes namens Zong-zhai stießen wir auf eine verlassene und bereits verfallene Ruine, die einst ein ansehnliches Steingebäude mit zwei Wachtürmen gewesen sein mußte. Unser Begleiter Ussu erzählte mir, in alter Zeit unter einer längst vergessenen Dynastie sei es eine Han-Festung gewesen, trage aber auch heute noch seinen alten Namen: Jadetor. Die Festung war nicht eigentlich ein Tor und bestand auch keineswegs aus Jade, sondern bildete nur das Westende einer massiven, dicken und beeindruckend hohen Mauer, die sich von hier aus in nordöstlicher Richtung erstreckte.
Die Große Mauer, wie die Ausländer sie nennen, wird von den Han selbst weit farbiger »Mund« ihres Landes genannt. In vergangener Zeit nannten die Han sich »Das Volk innerhalb des Mundes«, womit sie diese Mauer meinten; alle Völker im Norden und Westen nannten sie »Völker außerhalb des Mundes«. Wurde ein Verbrecher bei den Han zum Exil verurteilt, nannte man das, er sei
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