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Marco Polo der Besessene 2

Marco Polo der Besessene 2

Titel: Marco Polo der Besessene 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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»aus dem Mund ausgespieen« worden. Die Mauer war gebaut worden, um alle bis auf die Han draußen zu halten, und sie stellt fraglos das längste und stärkste Bollwerk dar, das Menschenhände je errichtet haben. Wie viele Hände wie lange daran gearbeitet haben, vermag kein Mensch zu sagen. Gleichwohl muß ihr Bau das Leben ganzer Generationen gekostet haben.
    Der Überlieferung entsprechend folgt die Mauer der gewundenen, vom Lieblingsschimmel eines gewissen Kaisers Chin vorgegebenen Route -jenes Han-Herrschers, der in irgendeiner grauen Frühzeit mit ihrem Bau begann. Diese Geschichte bezweifle ich jedoch, denn kein Pferd würde freiwillig einen so schwierigen Weg an hohen Bergketten entlanggenommen haben, wie der Mauerverlauf anzeigt. Wir und unsere Pferde taten das gewiß nicht. Wiewohl wir in den noch verbleibenden Wochen unserer offenbar nie endenden Reise quer durch Kithai ganz allgemein dem Verlauf dieser offenbar nie endenden Mauer folgten -die wir von nun an auch selten aus den Augen verloren -, fanden wir für gewöhnlich weiter unten im Tal eine weit weniger schwierige Route.
    Die Große Mauer windet sich quer durch Kithai, manchmal ununterbrochen von einem Horizont zum anderen, doch an anderen Stellen nutzt sie auch natürliche Wälle wie Gipfel und Klippen aus, verleibt sie sich gewissermaßen ein und entsteht als Bauwerk immer wieder dort, wo dahinter verwundbare Gebiete sich erstrecken. Auch ist sie nicht überall nur eine einzelne Mauer. In einem Bereich von Ost-Kithai stellten wir fest, daß drei einige li auseinanderliegende Mauern parallel nebeneinander verliefen.
    Auch besteht die Mauer nicht überall aus dem gleichen Material. Weiter im Osten ist sie aus großen Felsquadern errichtet, die säuberlich und fest mit Mörtel verbunden sind gleichsam als wäre sie in diesen Gegenden unter dem gestrengen Auge des Kaisers Chin entstanden -und steht unversehrt bis auf den heutigen Tag: ein großes, hohes, dickes und solides Bollwerk, das oben breit genug ist, daß eine Gruppe von mehreren Reitern nebeneinander auf ihr entlangsprengen kann, zu beiden Seiten mit einer Brustwehr mit Schießscharten und in bestimmten Abständen mit gedrungenen, aber die Mauer in jedem Falle überragenden Wachttürmen versehen. Auf manchen Etappen im Westen war die Mauer nicht sonderlich solide gebaut und nur aus Steinen und Lehm nachlässig zusammengefügt, gleichsam als hätten die Untertanen und Sklaven des Kaisers in dem Bewußtsein, daß er ja doch nie kommen und nachsehen werde, ihre Pflicht höchst nachlässig getan; auch war die Mauer hier nicht so hoch und dick wie im Osten, was zur Folge hatte, daß sie im Laufe der Jahrhunderte vielfach zusammengebrochen ist und streckenweise große Lücken aufweist.
    Trotzdem -alles in allem stellt die Große Mauer ein gewaltiges und achtungsgebietendes Bauwerk dar, und es fällt mir nicht leicht, sie so zu beschreiben, daß ein Abendländer versteht, was ich meine. Ich möchte es folgendermaßen ausdrücken: Könnte man die Mauer unversehrt aus Kithai herausheben und ihre zahlreichen Abschnitte aneinanderfügen, damit in Venedig anfangen und in nordwestlicher Richtung über den ganzen europäischen Kontinent verlaufen lassen, über die Alpen hinweg, durch Weidenflächen, über Flüsse und durch Wälder hindurch bis zu dem flämischen Nordsee-Hafen Brügge, wäre immer noch genug übrig, um die ganze Strecke zurück nach Venedig noch einmal zurückzulegen, und selbst dann wäre noch genug da, die Mauer von Venedig gen Westen bis an die französische Grenze voranzutreiben.
    In Anbetracht der Tatsache, daß die Große Mauer etwas wirklich Gewaltiges darstellt -warum hatten mein Vater und mein Onkel, die sie doch bereits kannten, mir gegenüber nie davon gesprochen und mich neugierig darauf gemacht? Und warum habe ich selbst in meinem früheren Reisebericht dies Wunder nicht erwähnt? Ich habe es nicht unterschlagen, weil ich meinte, die Menschen würden sich weigern, mir zu glauben. Ich habe die Mauer nur deshalb nicht erwähnt, weil ich sie -bei aller Großartigkeit - nur für eine triviale Leistung der Han halte und das auch heute noch tue. Für meine Begriffe beweist sie wieder einmal, daß es mit der weithin gerühmten Erfindungsgabe der Eingeborenen von Kithai doch nicht so weit her ist, und dieser Meinung bin ich auch heute noch. Aus folgendem Grunde:
    Während wir an der Großen Mauer entlangritten, sagte ich zu Ussu und Donduk: »Ihr Mongolen gehört zu einem Volk

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