Marco Polo der Besessene 2
Aufzug.
Selbst aus der Entfernung, in der wir standen, erkannte ich den Mann, der die Mitte des Podests einnahm -und hätte ihn auch erkannt, wäre er schäbig gekleidet gewesen und hätte unter all den einfachen Leuten auf dem Boden der Halle gesessen. Khan Kubilai war nicht auf seinen erhöhten Thronsitz und die mit Goldfäden durchwirkten, pelzgefütterten Seidenroben angewiesen, um deutlich zu machen, wer er war. Sein Herrschertum verriet sich schon in der aufrechten Art, in der er dasaß, als ob er immer noch rittlings auf einem Schlachtroß säße, sprach aus den markanten Linien seines wettergegerbten Gesichts und aus der Festigkeit seiner Stimme, obwohl er nur gelegentlich und dann auch noch recht leise sprach. Die Männer auf den Stühlen links und rechts von ihm waren fast ebenso gut gekleidet wie er, doch ihr Gebaren machte deutlich, daß sie Untergebene waren. Diskret den Finger auf sie richtend und im Flüsterton erklärte unser Führer, Lin-ngan, wer sie alle waren.
»Einer von ihnen ist der Suo-ke genannte Beamte. Das heißt ›Zunge‹. Vier von ihnen sind Schreiber des Khakhan, die auf Schriftrollen festhalten, was hier vor sich geht. Acht von ihnen sind Minister des Khakhan, jeweils zwei auf den vier immer höheren Rängen. Die hinter dem Podest, die ständig hin und her laufen, sind Boten, die Dokumente aus den Cheng-Archiven herbeiholen, wenn man sie braucht, um irgend etwas nachzusehen.«
Der »Zunge« genannte Beamte auf dem Podest war unablässig beschäftigt, sich hinunterzubeugen, um einen Bittsteller anzuhören und sich dann umzudrehen, um sich mit dem einen oder anderen der Minister zu besprechen. Aber auch diese Minister waren ständig beschäftigt, ihrerseits die Zunge zu befragen, Boten aufzufordern, Dokumente herbeizuschaffen, sich in diese Papiere und Rollen zu vertiefen, sich untereinander und gelegentlich mit dem Khakhan zu beraten. Doch die vier Schreiber schienen nur hin und wieder etwas zu notieren, woraufhin ich bemerkte, das sei schon sonderbar: daß die Herren Minister im cheng härter arbeiteten als ihre Schreiber.
»Ja«, sagte Lin-ngan, »die Schreiber machen sich nicht die Mühe, irgend etwas von diesen Verhandlungen festzuhalten - bis auf die Worte, die Khan Kubilai selbst spricht. Alles andere ist nur Vorbesprechung. Die Worte des Khakhan fassen alles bisher Gesprochene zusammen und heben alles bisher Gesagte auf.«
Nun hätte man meinen sollen, daß in einem so riesigen Raum mit so vielen Menschen darin ein mißtönendes, weithin hallendes Stimmengewirr geherrscht hätte, aber die Menge war ruhig und gesittet, wie eine Gemeinde in einer Kirche. Nur eine Person stand jeweils auf, trat an das Podest heran und richtete das Wort auch nur an den »Zunge« genannten Beamten und das auch noch in einem so leisen und ehrfürchtigen Ton, daß wir am anderen Ende des Raums nichts von dem mitbekamen, was sich da vorn tat, bis die Zunge nach den Beratungen für alle das Urteil verkündete.
Lin-ngan sagte: »Im Laufe eines cheng richtet niemand außer der Zunge das Wort direkt an den Khan Kubilai, und dieser spricht auch mit keinem anderen außer ihr. Ein Bittsteller oder Ankläger legt seinen Fall der Zunge vor -die übrigens deshalb so genannt wird, weil sie alle Sprachen im Reiche spricht und versteht. Dann unterbreitet die Zunge den Fall einem der beiden Minister des untersten Ranges. Betrachtet dieser die Angelegenheit als wichtig genug, gibt er sie weiter nach oben. Auf jedem Rang kann nach Konsultierung etwaiger Präzedenzfälle ein Urteilsspruch vorgeschlagen und der Zunge mitgeteilt werden, die ihn ihrerseits an den Khakhan weiterleitet. Dieser kann zustimmen oder gewisse Änderungen des Urteilsspruchs verlangen oder ihn auch gänzlich verändern. Dann verkündet die Zunge den Beteiligten und allen, die sich in Hörweite befinden, laut das endgültige Urteil -daß der Schaden an einen Klageführenden zu bezahlen sei oder dem Verteidiger auferlegt werde, oder eine Bestrafung, die vorgenommen werden solle, manchmal aber auch, daß die ganze Angelegenheit fallenzulassen sei - und damit ist der Fall für immer abgeschlossen.«
Ich erkannte, daß dieser cheng von Khanbalik anders funktioniert als der daiwan von Baghdad, wo jeder Fall zwischen dem Shah und seinem wazir und einer Gruppe gelehrter muslimischer Imams und Muftis so lange diskutiert werden muß, bis man zu einem einvernehmlichen Urteil kommt. Hier konnten die Minister untereinander zunächst über einen Fall
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