Marco Polo der Besessene 2
die Geschichten der Zeiten vor meiner eigenen studiert. Zu allen Zeiten, so scheint es, haben alle möglichen Religionen das Versprechen weltweiten Friedens und Wohlstands, Gesundheit und brüderlicher Liebe sowie allumfassenden Glücks bereitgehalten -und für irgendeine Art Himmel hinterher. Über das Hinterher weiß ich nichts. Doch nach meinen eigenen Erfahrungen bleiben die meisten Menschen auf dieser Erde, auch diejenigen, die beten und aufrichtigen Herzens verehren, arm und kränklich und unglücklich und ohne Erfüllung, ja, sie haben nur äußerste Verachtung füreinander übrig, selbst dann, wenn sie sich nicht regelrecht bekriegen, was jedoch nur selten der Fall ist.«
Mein Vater machte den Mund auf, vielleicht um gegen die Ungereimtheit zu protestieren, die darin lag, daß ausgerechnet ein Mongole den Krieg beklagte, doch der Khakhan ließ sich nicht unterbrechen, sondern fuhr fort:
»Bei den Han erzählt man sich eine Legende über einen Vogel namens jing-wei. Von Anbeginn der Zeiten hat jing-wei Kieselsteine in seinem Schnabel getragen, um das grenzenlose und bodenlose Kithai-Meer aufzufüllen und zu festem Land zu machen; mit diesem fruchtlosen Bemühen wird der jing-wei fortfahren bis an das andere Ende der Tage. So, meine ich, muß es wohl mit Glaubensüberzeugungen und Religionen und Verehrungen sein. Ihr könnt kaum leugnen, daß eure eigene christliche Kirche jetzt über zwölf volle Jahrhunderte den jingwei-Vogel spielt -immer vergeblich und stets sinnlos Versprechen gebend, die sie nie einhalten kann.«
»Nie, Sire?« sagte mein Vater. »Wenn genug Kieselsteine da sind, wird auch das Meer gefüllt sein. Mit Geduld, irgendwann einmal sogar das gewaltige Kithai-Meer.«
»Niemals, Freund Nicolo«, erklärte der Khakhan mit Entschiedenheit. »Unsere gelehrten Kosmographen haben bewiesen, daß die Welt aus mehr Wasserflächen besteht denn aus Land. Folglich gibt es nicht genug Kieselsteine.«
»Aber Tatsachen vermögen nichts gegen den Glauben, Sire.«
»Und wie ich fürchte, auch nichts gegen unerschütterliche Torheit. Nun, genug hiervon. Ihr seid Männer, auf die wir vertraut haben, und ihr habt dieses Vertrauen enttäuscht, indem ihr die verlangten Priester nicht hergebracht habt. Allerdings herrscht hier bei uns eine Sitte: wohlerzogene Männer nicht in Gegenwart anderer zu rügen.« Damit wandte er sich an den Mathematiker, der mit einem höflichen Ausdruck der Langeweile diesem Austausch gefolgt war. »Lin-ngan, würdet Ihr Euch freundlicherweise zurückziehen, uu? Laßt mich mit den Herren Polo allein, damit ich ihnen für ihr Versäumnis den Kopf zurechtsetze.«
Ich erschrak, war erbost und von einem gewissen Unbehagen erfüllt. Das also hatte dahintergesteckt, daß er uns hier in den cheng bestellt hatte, damit wir seinen eigenwilligen und launischen Urteilssprüchen lauschten -damit uns bereits Zittern und Zagen befiel, ehe wir sein Urteil über uns anhörten. Sollten wir diese mühselige lange Reise nur zurückgelegt haben, um schrecklich bestraft zu werden. Doch wieder überraschte er mich. Nachdem Lin-ngan gegangen war, gluckste er in sich hinein und sagte:
»Alle Han sind bekannt dafür, daß sie gern Gerüchte in Umlauf setzen, und Lin-ngan ist ein echter Han. Der gesamte Hof hat von eurem Auftrag, Priester herzubringen, gewußt, und jetzt wird er erfahren, daß in unsere Unterredung von nichts anderem die Rede war. Fahren wir deshalb mit dem michts anderem fort.«
Lächelnd meinte Onkel Mafìo: »Es gibt zahllose ›nichts anderes‹, über die wir reden könnten, Sire. Worüber als erstes?«
»Man hat mir berichtet, eure Reise habe euch in die Hände meines Vetters Kaidu geraten lassen -und daß er vorübergehend die Faust um euch geschlossen hatte.«
»Das war nur eine kurze Verzögerung, Sire«, sagte mein Vater und wies mit einem Handwedel auf mich. »Marco hat einen blendenden Einfall gehabt, uns zu helfen, doch davon werden wir Euch ein andermal berichten. Kaidu hatte vor, sich an den Geschenken zu vergreifen, die wir von Euren Untertanen, dem Shah von Persien und dem Sultan der India Aryana, für Euch mitgebracht haben. Und Euer Vetter hätte sich wohl alles angeeignet, wäre nicht Marco gewesen.«
Wieder bedachte der Khakhan mich mit einem kurzen Kopfnicken, ehe er sich wieder meinem Vater und meinem Onkel zuwandte: »Dann hat Kaidu euch also nichts fortgenommen, uu?«
»Nichts, Sire. Wenn Ihr befehlt, werden wir die Diener beauftragen, die Fülle von Gold und
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