Marco Polo der Besessene 2
sagte er: »Älterer Bruder« -redete mich also äußerst förmlich an, denn schließlich war er der ältere von uns beiden. »Älterer Bruder Marco, das Urteil Tod der Tausend wird nur ganz weniger schlimmen Verbrechen wegen verhängt. Und bei den Kapitalverbrechen steht Verrat an erster Stelle.«
Eilends revidierte ich mein Urteil über seinen Vater. Wenn Kubilai als Mongole imstande war, für zwei Mongolen ein so entsetzliches Ende zu befehlen -für zwei gute Krieger, deren einziges Vergehen darin bestanden hatte, seinem eigenen Unterhäuptling Kaidu die Treue bewahrt zu haben -, dann war es offensichtlich falsch von mir, in seinem Verhalten im cheng nur den Wunsch zu sehen, sich uns Fremden gegenüber in Positur zu setzen und uns zu beeindrucken. Offensichtlich war es Kubilai nicht darum zu tun, daß andere die Urteile, die er fällte, als Warnung oder als beispielhaft verstanden. Es kümmerte ihn kein Deut, ob irgend jemand sonst Notiz von ihnen nahm oder nicht. (Ich hätte von dem furchtbaren Schicksal von Ussu und Donduk nie zu erfahren brauchen; folglich hatte er es nicht bestimmt, um Eindruck auf uns Polo zu machen.)
Der Khakhan übte seine uneingeschränkte Macht einfach uneingeschränkt aus. Die Triebkräfte, die dahinterstanden, zu belächeln oder infrage zu stellen, war selbstmörderisch -zum Glück hatte ich das nur in meinem Kopf getan -, und selbst sein Handeln zu preisen, wäre sinnlos und überflüssig und würde auch nicht zur Kenntnis genommen. Kubilai würde tun, was er tun wollte. Nun, dann war das soeben Erlebte zumindest für mich exemplarisch. Von Stund an würde ich, solange ich mich im Reich des Khan Aller Khane bewegte, unauffällig auftreten und leise sprechen.
Nur dies eine Mal noch wollte ich, ehe ich mich fügsam zeigte, den Versuch machen, etwas zu ändern.
»Ich habe Euch erklärt, Chingkim«, wandte ich mich an den Prinzen, »daß Donduk nicht gerade ein Freund von mir war, aber er lebt ohnehin nicht mehr. Ussu hingegen -ich habe ihn gemocht, und meine unvorsichtigen Worte waren es, die ihn hierher gebracht haben -, und er ist noch am Leben. Kann man denn nichts machen, seine Bestrafung zu mildern?«
»Ein Verräter hat den Tod der Tausend verdient«, erklärte Chingkim steinernen Gesichts. Dann jedoch ließ er sich immerhin soweit erweichen zu sagen: »Es gibt nur eine Möglichkeit der Linderung.«
»Ach, Ihr kennt sie selbstverständlich, mein Prinz«, sagte derLiebkoser mit verzerrtem Gesicht. Zu meiner Überraschung und meinem Entsetzen sprach er vollkommenes Farsi. »Ihr wißt auch, wie eine solche Erleichterung zu erlangen ist. Nun, mit derlei Geschäften gibt sich mein Oberschreiber ab. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollte, Prinz Chingkim, Herr Marco…«
Mit gezierten Trippelschritten durchmaß er den Raum, gab seinem Oberschreiber einen Wink, sich um uns zu kümmern, und ging durch die eisenbeschlagene Tür hinaus.
»Was ist zu tun?« wandte ich mich an Chingkim.
»In Fällen wie diesen muß ab und zu bestochen werden«, knurrte er. »Nur, ich selbst habe bisher auf so etwas nicht zurückgreifen müssen«, fügte er noch voller Abscheu hinzu. »Für gewöhnlich geschieht das von Seiten der Familie des Objekts. Sie stürzen sich in Armut und nehmen Schulden auf, an denen sie ihr ganzes Leben lang abbezahlen müssen. Meister Ping muß einer der reichsten Beamten in ganz Khanbalik sein. Hoffentlich erfährt mein Vater nie, daß ich die Torheit besessen habe, dies zu tun. Er würde mich auslachen und bitterböse auf mich sein. Und Ihr, Marco -ich hoffe, daß Ihr mich nie wieder um einen solchen Gefallen bittet.«
Der Oberschreiber kam herbeigeschlendert und schob fragend die Augenbrauen in die Höhe. Chingkim griff in seinen Beutel, den er am Gürtel hängen hatte, und sagte in der umschreibenden Redeweise der Han: »Für das Objekt Ussu wäre ich bereit, soviel zu bezahlen, daß die Waagschale mit den vier Zetteln nach oben steigt.« Er nahm ein paar Goldmünzen und steckte sie
dem Schreiber diskret zu.
Ich fragte: »Was bedeutet das, Chingkim?«
»Es bedeutet, daß die vier Zettel, auf denen die lebenswichtigen Körperteile stehen, oben auf dem Korb zu liegen kommen, wo die Wahr scheinlichkeit besteht, daß die Hand des Liebkosers sie schnell findet. Und jetzt laßt uns gehen.«
»Aber wie…?«
»Mehr kann man nicht machen«, knurrte er mich mit zusammengebissenen Zähnen an. »Komm jetzt, Marco!«
Auch Nasenloch zupfte mich am Ärmel, doch ich ließ
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