Marco Polo der Besessene 2
mich.
Armer Onkel Mafìo! Er schien zu glauben, daß zunächst einmal seine abnorme Natur keine Schwäche sei, sondern vielmehr eine Stärke, die überlegen mache und nur von einer mittelmäßigen Welt nicht als solche erkannt werde, und er die verblendete Welt bestimmt dazu gebracht hätte, diese Überlegenheit anzuerkennen, wäre diese ihm nicht viel zu früh auf infame Weise genommen worden. Nun, ich habe im Leben viele Menschen kennengelernt, die unfähig waren, irgendeinen auffälligen Mangel oder eine Unvollkommenheit zu verbergen, und statt dessen versuchten, diese als einen Segen hinzustellen. Ich habe es erlebt, daß die Eltern eines verkrüppelten und geistig nicht entwickelten Kindes seinen Taufnamen fallenließen und es »Christian« nannten unter dem rührenden Vorwand, der Herr habe dies Kind gewißlich für den Himmel bestimmt und es deshalb schlecht für das Leben gerüstet. Krüppel können mir zwar leid tun, aber ich habe nie geglaubt, daß, wenn ich einem Makel einen schönen Namen gäbe, dieser Makel zur Zier würde oder den damit Geschlagenen zu etwas Besonderem mache.
Ich begab mich in meine eigenen Gemächer, wo der Wang Chingkim bereits auf mich wartete. Gemeinsam gingen wir hinüber in ein entfernt gelegenes Palastgebäude, wo sich das Arbeitszimmer des Hofgoldschmieds befand.
»Marco Polo -Meister Pierre Boucher«, sagte Chingkim, als er uns vorstellte, woraufhin der Goldschmied herzlich lächelte und sagte: »Bon jour, Messire Paule.« Ich weiß heute nicht mehr, was ich darauf gesagt habe, dazu war ich viel zu überrascht. Der junge Mann -nicht älter als ich selbst -war der erste echte Ferenghi, dem ich seit meiner Abreise von daheim begegnet war -womit ich meine, der erste echte Franke, ein Franzose.
»Zur Welt gekommen bin ich in Karakoren, der alten Mongolenhauptstadt«, sagte er und sprach ein Mischmasch aus Mongolisch und halbvergessenem Französisch, als er mir sein Arbeitszimmer zeigte. »Meine Eltern waren Pariser, doch war mein Vater Guillaume Goldschmied am Hof König Belas von Ungarn. Deshalb wurden mein Vater und meine Mutter von den Mongolen gefangengenommen, als diese unter dem Ilkhan Batu Belas Stadt Buda einnahmen. Als Gefangene kamen wir zum Khakhan Kuyuk in Karakoren. Als der Khakhan jedoch das Talent meines Vaters erkannte, alors, da nannte er ihn Maître Guillaume, zog ihn an seinen Hof, und er und meine Mutter lebten für den Rest ihres Lebens herrlich und in Freuden in diesen Landen. Und das tue auch ich, der ich unter der Herrschaft des Khakhan Mangu hier geboren wurde.«
»Wenn Ihr hier in so hohem Ansehen steht, Pierre«, sagte ich, »und ein freier Mensch seid - könntet Ihr Euch dann nicht vom Hofdienst dispensieren lassen und zurückkehren ins Abendland?«
»Ah, oui. Nur zweifle ich, daß ich dort so gut leben könnte wie hier, denn meine Begabung ist nicht so groß wie die meines Vaters. Zwar verstehe ich mich durchaus auf die Künste der Gold-und Silberverarbeitung, auf das Schneiden von Gemmen und die Schmuckherstellung, mais voilà tout. Die meisten Erfindungen, die Ihr hier im Palast zu sehen bekommt, stammen von meinem Vater. Wenn ich nicht gerade Schmuck herstelle, liegt meine Hauptaufgabe darin, diese Apparate funktionstüchtig zu erhalten und zu warten. Deshalb gewährt der Khakhan Kubilai mir gleich seinen Vorgängern so manches Privileg und keine geringen Bezüge. Ich habe eine behagliche Wohnung, stehe im Begriff, eine angesehene mongolische Dame vom Hof zu heiraten, und so bin ich es zufrieden hierzubleiben.«
Auf meine Bitte hin erklärte Pierre mir das Funktionieren des Erdbebenapparats im Gemach des Khakhan -was wiederum, wie bereits berichtet, mich instand setzte, Kubilai zu beeindrucken. Pierre weigerte sich zwar entschieden, meine Neugier in bezug auf den getränkespendenden Schlangenbaum und die flügel-und radschlagenden Pfauen im Festsaal zu befriedigen, sagte aber gutmütig:
»Genauso wie die Erdbebenurne hat mein Vater sie erfunden, nur sind sie wesentlich verzwickter gebaut als diese. Bitte, verzeiht meinen Eigensinn, Marco -und Prinz Chingkim« -er vollführte eine elegante kleine französische Verbeugung vor uns beiden -»aber das Geheimnis der Apparate im Festsaal möchte ich für mich behalten. Ich bin gern Hofgoldschmied, und es gibt viele Künstler hier, die mit Freuden meinen Platz einnehmen würden. Da ich jedoch nur ein Ausländer bin, vous savez, muß ich die Vorteile, die ich habe, eifersüchtig hüten. Solange es
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