Marionetten
wo ich Medizin studieren und in Demut beten kann. Um mehr bitte ich nicht. Ich danke Ihnen.«
Sein Oberkörper sackte auf die Tischplatte, und unter heftigem Schluchzen vergrub er den Kopf in den verschränkten Armen. Leyla kam aus der Küche gerannt, um ihn zu trösten. Melik baute sich vor Brue auf, wie um Issa vor weiteren Attacken zu schützen. Auch Annabel war aufgestanden, wagte es aber aus Gründen der Schicklichkeit nicht, sich ihrem Mandanten zu nähern.
»Und ich danke Ihnen, Issa«, antwortete Brue nach einem längeren Schweigen. »Frau Richter, könnte ich Sie wohl bitte einen Moment unter vier Augen sprechen?«
* * *
Sie standen sich gegenüber, einen halben Meter voneinander entfernt neben einem Punchingball in Meliks Zimmer: ein Blickeduell trotz dreißig Zentimetern Größenunterschied. Ihre honiggesprenkelten Augen hinter den Brillengläsern begegneten den seinen mit stählerner Härte. Sie atmete langsam und bewußt gleichmäßig, genau wie er selbst. Mit einer Hand band sie sich das Tuch vom Kopf und entblößte ihr Gesicht, als wollte sie ihn herausfordern, den ersten Schlag zu führen. Aber sie besaß Georgies Furchtlosigkeit und ihre eigene unanfechtbare Schönheit, und im Grunde ahnte er schon, daß er verloren war.
»Wieviel wußten Sie davon?« fragte er barsch, mit einer Stimme, die er selbst kaum wiedererkannte.
»Das geht nur meinen Mandanten etwas an.«
»Er macht einen Anspruch geltend, und er macht keinen Anspruch geltend. Was erwarten Sie von mir? Er will das Geld nicht, aber er will meinen Schutz.«
»Richtig.«
»Schutz ist nicht mein Metier. Ich bin eine Bank. Aufenthaltsgenehmigungen sind nicht mein Metier. Deutsche Pässe oder Studienplätze für Medizin sind nicht mein Metier!« Er gestikulierte, was bei ihm so gut wie nie vorkam. Bei jedem nicht schlug er sich mit der rechten Faust in die linke Hand.
»Für meinen Mandanten sind Sie eine hohe Amtsperson«, gab sie zurück. »Ihnen gehört eine Bank, also gehört Ihnen die Stadt. Ihr Vater und sein Vater waren Ganoven, Spießgesellen. Das macht Sie und ihn zu Blutsbrüdern. Natürlich werden Sie ihn beschützen.«
»Mein Vater war kein Ganove!« Er nahm sich zusammen. »Schön, Sie sind emotional beteiligt. Und ich anscheinend auch. Was ja nur natürlich ist. Ihr Mandant ist ein tragischer Fall, und Sie sind …«
»Nur eine Frau?«
»Eine Anwältin, die sich ihrer Verantwortung für ihren Mandanten bewußt ist.«
»Eine Verantwortung, die Sie genauso tragen, Mr. Brue.«
Unter anderen Umständen hätte Brue das energisch abgestritten, aber er ließ es auf sich beruhen. »Der Mann wurde gefoltert, und er könnte dabei psychischen Schaden genommen haben«, sagte er. »Leider bedeutet das nicht automatisch, daß er auch die Wahrheit sagt. Woher soll ich wissen, daß er sich nicht den Besitz und die Identität eines Mitgefangenen angeeignet hat, um sich auf das Geburtsrecht eines anderen zu berufen und einen falschen Anspruch geltend zu machen – was ist daran so lustig?«
Sie lächelte, aber es war ein auftrumpfendes Lächeln. »Sie haben gerade zugegeben, daß es sein Geburtsrecht ist.«
»Ich habe nichts dergleichen zugegeben!« erwiderte Brue erbost. »Ich habe das genaue Gegenteil gesagt. Daß es eben unter Umständen nicht sein Geburtsrecht ist! Und selbst wenn es sein Geburtsrecht ist, er aber keinen Anspruch anmeldet – wo ist da der Unterschied?«
»Der Unterschied ist folgender, Mr. Brue: Ohne Ihre Scheißbank wäre mein Mandant nicht hier.«
Einen Augenblick lang ruhten die Waffen, während jeder für sich Annabels verblüffende Wortwahl prüfte. Brue versuchte Aggression an den Tag zu legen, aber vergeblich. Im Gegenteil, es kam ihm immer mehr so vor, als ob er auf ihre Seite überlief.
* * *
»Frau Richter.«
»Mr. Brue.«
»Ohne zwingende Beweise weigere ich mich, einzuräumen, daß meine Bank – mein Vater – russischen Ganoven seine freundschaftliche Hilfe hat angedeihen lassen.«
»Und was würden Sie einräumen?«
»Zuerst muß Ihr Mandant seinen Anspruch anmelden.«
»Das wird er nicht. Von dem Geld, das Anatolij ihm gegeben hat, sind noch fünfhundert Dollar übrig; die rührt er nicht an. Er will sie zum Abschied Leyla schenken.«
»Wenn er seinen Anspruch nicht anmeldet, habe ich keine Handhabe, und die ganze Situation ist sowieso – akademisch. Weniger als akademisch. Nichtig.«
Sehr lange brauchte sie über seine Antwort nicht nachzudenken. »Na gut. Nehmen wir also an, er
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