Marionetten
merkt?«
Die Entscheidung, die Keller mit trockener Stimme von seinem Thron herab fällte, hatte die Härte eines Todesurteils:
»Kein verantwortungsbewußter Nachrichtendienstler kann sich zugunsten eines vagen operativen Ziels über eine klare, akute Gefahr hinwegsetzen. Ich bin der Auffassung, daß eine Fahndung mit anschließenden medienwirksamen Festnahmen auf islamistische Sympathisanten abschreckend wirken und das Vertrauen in die Sicherheitskräfte stärken wird. Manche Fälle verlangen nach einem konkreten Abschluß. Dies ist so einer. Deshalb schlage ich vor, Sie legen die Pläne, zu denen Sie sich verstiegen haben, vorläufig ad acta und wir übergeben die Sache zur weiteren Strafverfolgung dem BKA.«
»Das heißt, Sie wollen Festnahmen?«
»Ich will das, was die Gesetzeslage erfordert.«
Und das, was dir ein paar Fleißkärtchen bei deinem stockrechten Freund Burgdorf von der Zentrale einbringt, dachte Bachmann bitter. Hauptsache, du kannst als der Superspion hinter dem schwerfälligen BKA glänzen. Und ich stehe als der Gelackmeierte da.
Doch ausnahmsweise schaffte er es, seine Zunge im Zaum zu halten.
* * *
Seite an Seite gingen Erna Frey und Bachmann zurück zu ihrem Pferdestall. Im Büro angelangt, warf Bachmann seine Jacke auf die Armlehne des Sofas und rief über die verschlüsselte Leitung Michael Axelrod in der Zentrale an.
»Schieb ruhig alles auf mich«, sagte Erna Frey, den Kopf in die Hände gestützt.
Doch zu ihrer Überraschung klang Axelrod nicht halb so beunruhigt, wie er hätte klingen müssen.
»Habt ihr schon was gegessen?« fragte er auf gewohnt lässige Art, nachdem er sich angehört hatte, was Bachmann zu sagen hatte. »Dann holt ihr euch jetzt eine Bulette und bleibt, wo ihr seid.«
Sie warteten auf den Start von Kellers Hubschrauber, aber er startete nicht, was sie nur noch mehr deprimierte. Sie hatten keinen Appetit auf Buletten. Als das verschlüsselte Telefon endlich läutete, war es vier Uhr nachmittags geworden.
»Ihr habt zehn Tage«, sagte Axelrod. »Wenn ihr bis dahin keine schlagenden Argumente liefern könnt, kriegen die ihre Festnahme. So läuft das hier bei uns. Zehn Tage, keine elf. Also haltet euch ran.«
6
Ich tue es für Magomed, sagte sie sich, während sie versuchte, Klarheit in ihr Gedankenchaos zu bringen.
Ich tue es für Issa.
Ich tue es, weil ich das Leben über das Gesetz stelle.
Ich tue es für mich.
Ich tue es, weil ich von Brue, dem Bankier, das nötige Geld bekommen habe und durch das Geld auf die Idee gekommen bin. Nein, völlig falsch! Die Idee war längst da, ehe Brue mit seinem Geld kam. Das Geld war nur das Zünglein an der Waage. Sobald ich Issas Geschichte gehört hatte, wußte ich, daß ich hier im Rahmen des Systems nicht weiterkomme, daß sein Leben das eine unrettbare Leben ist, das ich retten muß, daß ich mich nicht als Anwältin, sondern als Ärztin zu sehen habe und mich fragen muß: Was für eine Pflicht habe ich gegenüber diesem Versehrten Menschen, was für eine deutsche Anwältin bin ich, wenn ich ihn in der juristischen Gosse verbluten lasse wie Magomed?
Solange ich so denke, wird mich der Mut nicht verlassen.
* * *
Der Morgen graute. Am rosafarbenen Stadthimmel zeichneten sich düsterblaue Wolkenschlieren ab. Annabel ging voraus, Issa in seinem langen schwarzen Mantel, entgegen muslimischer Gepflogenheit, einen Meter hinter ihr: zwei ewige Flüchtlinge, so schien es ihr, er mit der Satteltasche, sie mit dem Rucksack, im Ohr noch immer die herzzerreißende Abschiedsszene in Leylas Haus.
Denn Leyla, den stummen Melik neben sich, versteht plötzlich die Welt nicht mehr. Warum muß Issa gehen? Sie heult zum Steinerweichen. Sie hat ja keine Ahnung gehabt! Warum hat ihr keiner etwas gesagt? Wohin in Gottes Namen will Annabel ihn mitten in der Nacht bringen? Zu Freunden? Was für Freunden ? Hätte sie das gewußt, hätte sie ihm doch Proviant hergerichtet! Issa ist ihr Sohn, ihr Geschenk von Allah, ihr Haus ist sein Haus, er darf für immer bleiben!
Fünfhundert Dollar? Keinen Cent will sie davon annehmen! Sie hat es nicht für Geld getan, sondern für Allah und aus Liebe zu Issa. Und wo in Allahs Namen kommt eine solche Summe überhaupt her? Von dem reichen Russen, der hier gewesen ist? Abgesehen davon, daß man Fünfzigdollarscheine heutzutage sowieso nicht loswird. Die sind doch alle gefälscht! Und wenn Issa ihr Geld geben will, wieso hat er es dann zwei Wochen lang gehortet, statt es offen auf den Tisch zu
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