Marionetten
Hindernis in Ihrer Geschichte?«
»Ich dachte überhaupt nicht daran, mit dem Taxi bis nach Hause zu fahren« – dies Werner mitten ins Gesicht.
»Warum nicht?«
»Vielleicht wollte ich ja gar nicht nach Hause.«
»Warum nicht?«
»Vielleicht lege ich keinen gesteigerten Wert darauf, meine Mandanten wissen zu lassen, wo ich wohne. Vielleicht schien es mir wünschenswerter, einen meiner zahlreichen Liebhaber zu besuchen, Herr Werner.« Von denen Sie so liebend gern einer wären, dachte sie.
»Also haben Sie das Taxi weggeschickt.«
»Richtig.«
»Und sind zu Fuß gegangen. Wohin, dürfen wir nicht wissen.«
»So ist es.«
»Und Karpow ist mitgekommen, nehme ich doch an. Er konnte ja eine hübsche Frau wie Sie schlecht morgens um halb fünf allein durch die Straßen laufen lassen. Er ist ein rücksichtsvoller Mann. Kein bißchen gefährlich. Das haben Sie doch gesagt. Stimmt’s?«
»Nein.«
»Was, nein?«
»Nein, er ist nicht mitgekommen.«
»Er ist also ebenfalls zu Fuß weitergegangen, aber in eine andere Richtung!«
»Genau. Er ist Richtung Norden gegangen und dann verschwunden. Ich nehme an, er ist in eine Seitenstraße abgebogen. Mir ging es mehr darum, daß er mir nicht folgte, als darum, herauszufinden, wohin er geht.«
»Und danach?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie haben ihn seitdem nicht gesehen? Keinen Kontakt mit ihm gehabt?«
»Nein.«
»Nicht einmal durch Verbindungspersonen?«
»Nein.«
»Aber er hat Ihnen natürlich seine Telefonnummer gegeben. Und seine Adresse. Ein verzweifelter illegaler Einwanderer wird sich doch nicht eine so begabte junge Frau als Fürsprecherin suchen, nur um sie bei erstbester Gelegenheit in die Wüste zu schicken!«
»Er hat mir weder eine Telefonnummer noch eine Adresse gegeben, Herr Werner. Auch das ist in unserem Beruf nichts Ungewöhnliches. Er hat unsere Nummer hier. Ich hoffe natürlich, daß wir noch einmal von ihm hören werden, aber sicher ist das keineswegs« – erneut suchte sie mit einem Blick um Ursulas Zustimmung an, erhielt aber nur ein kaum wahrnehmbares Nicken zur Antwort. »Das liegt in der Natur unserer Arbeit hier bei Fluchthafen. Klienten wenden sich an uns und verschwinden wieder. Sie brauchen Zeit, um sich mit ihren Schicksalsgenossen auszutauschen, um zu beten, von Krankheiten zu genesen oder unterzutauchen. Vielleicht hat Herr Karpow Frau und Familie, die bereits hier sind. Wir erfahren nur selten die ganze Geschichte. Vielleicht hat er Freunde hier, russische Landsleute, tschetschenische Landsleute. Oder er ist bei einer religiösen Gemeinde untergeschlüpft. Wir wissen es nicht. Manchmal kommen sie am nächsten Tag wieder, manchmal erst nach einem halben Jahr, manchmal auch gar nicht.«
* * *
Herr Werner bereitete noch seinen Gegenangriff vor, als sich sein bislang stummer Kollege in das Gespräch einschaltete.
»Und was ist mit diesem anderen Typen, der Freitag nacht mit bei den Türken war?« erkundigte sich Herr Dinkelmann in dem leutseligen Ton eines Mannes, der zu einer fetzigen Party nicht nein sagt. »Großer stattlicher Bursche, gut angezogen. So alt wie ich. Alter sogar. Ist das auch ein Rechtsbeistand von Karpow?«
Annabel mußte an ihren Repetitor in Tübingen denken, an seine Auslassungen über die Kunst des Kreuzverhörs. Unterschätzen Sie nie das Schweigen eines Zeugen, hatte er ihnen gepredigt. Es gibt beredtes Schweigen und schuldbewußtes Schweigen, das Schweigen echter Verblüffung und das Schweigen der Kreativität. Der Trick besteht darin, das Schweigen Ihres Zeugen richtig zu deuten. Aber das Schweigen, das nun gedeutet sein wollte, war Annabels eigenes Schweigen.
»Gehört das mit zu Ihrer Koordination, Herr Dinkelmann?« fragte sie scherzhaft, während sie fieberhaft ihre Gedanken zu sammeln versuchte.
Wieder das Clownsgrinsen, ein U wie aus dem Bilderbuch. »Nicht mit mir flirten, Frau Richter. Ich bin anfällig für so was. Sagen Sie mir nur: Wer war dieser Mann? Sie haben ihn mitgebracht. Er war stundenlang in dem Haus. Dann ist er allein wieder rausgekommen, der Arme. Ist kreuz und quer durch die Stadt gelaufen, als ob er etwas verloren hätte. Wonach hat er gesucht?« Er richtete die Frage an Ursula. »Alle stiefeln sie durch die Gegend in dieser Geschichte. Macht mich völlig fertig.« Dann wieder an Annabel gewandt, in schönster Seelenruhe: »Kommen Sie schon. Sagen Sie mir, wer er ist. Ein Name. Irgendein Name. Denken Sie sich einen aus.«
Aber Annabel hatte das Gesicht ihres Vaters
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