Martha Argerich
ihre Freiheit am nächsten Tag, die es ihr erlaubt, noch mehr unentdeckte Schätze in dem Werk zu heben. Auch bei der Erarbeitung neuer Stücke geht Martha mit äußerster Akribie vor. »Sie ist bis zur letzten Minute auf der Suche«, verrät uns die Pianistin Akané Sakai, eine enge Freundin der Argentinierin. Welchen Fingersatz soll man nehmen, um zugleich den bestmöglichen Ausdruck und ein Maximum an Bequemlichkeit zu erzielen? Wie können Wohlklang und »Gesang« ins Gleichgewicht gebracht werden? Die Suche nach der perfekten Tonfarbe findet nie ein Ende. Und weil es sich um echte Meisterwerke handelt, die man nicht via Definition erfassen kann, dauert ihre Erforschung ein Leben lang an.
Über technische Fragen spricht sie nur mit ihren allerbesten Pianistenfreunden. Warum sollte sie die Neugier anderer befriedigen? Sie hat keinerlei Probleme damit, anderen die Rolle im Rampenlicht zu überlassen, bewundert ihr Talent, behauptet, selbst auch ihre Schwierigkeiten zu haben. Trifft sie dann mit ihren alten Freunden aus Argentinien zusammen, wird die Frage der Technik zu einer regelrechten Obsession. Wenn sich Bruno Leonardo Gelber und sie alle fünf bis zehn Jahre wiedersehen, werden sie sofort wieder zu den beiden Kindern, die nach der Scaramuzza-Stunde zusammen nach Hause gegangen sind und sich flüsternd ihre intimsten Geheimnisse anvertraut haben, aus lauter Angst, er könnte sie hören. »Übst du Triller?«, fragt Martha, die sich wegen dieser Verzierung schon immer mit Komplexen herumgequält hat: Sie beginnt ihre Triller mit leichter Hand, aber gerät dann leicht mit den Fingern ins Stottern und befürchtet, das Beben zwischen den beiden Noten nicht mehr zum Stoppen bringen zu können. »Ja, natürlich. Und du, Martha, übst du auch schön deine Oktaven?«, setzt er hinzu, wobei er genau weiß, dass er auf diesem Gebiet die Behändigkeit der Freundin nicht erreichen wird. »Ja, natürlich«, erwidert Martha. »Schnelle Oktaven, die von Mal zu Mal schneller werden.« Nach solchen Fachsimpeleien versinken sie alle beide ins Grübeln.
Martha fängt in der Regel erst dann an zu arbeiten, wenn die Nacht längst hereingebrochen ist. »Meine Dracula-Seite«, sagt sie dazu. Davor hat sie an andere Dinge gedacht, die nichts mit dem Klavier zu tun haben … Und dabei tausend verschiedene Sachen erledigt. Anders als jene Musiker, die den ganzen Vormittag an ihrem Instrument verbringen und nachmittags ausgehen, bewegt sich Martha nicht von zu Hause fort. Aber sie gönnt sich jede Menge Pausen. »Für den Denker und für alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme ›Windstille‹ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen« – dieser Satz von Friedrich Nietzsche scheint genau auf sie gemünzt zu sein. Sie vermittelt nicht gerade den Eindruck, als wäre sie hochkonzentriert, im Gegenteil, sie wirkt zerstreut, entschlusslos, träge. Und dennoch: Wenn sie vom Klavier aufsteht, um mit ihren Freunden zu plaudern, so wissen alle, dass über kurz oder lang das ewige Lamento »Ich muss zurück an die Arbeit« erfolgen und den heiteren Austausch unterbrechen wird. Die Umsetzung dieses Vorhabens ist allerdings stark von Marthas Tagesform abhängig. Eine Frage des Rhythmus’ sozusagen. Tatsache ist, sie sitzt heute länger am Klavier als früher. Doch sie bedauert, nicht mehr die Disziplin ihrer jungen Jahre aufbringen, die regelmäßigen Übungszeiten einhalten zu können. Sie achtet penibel darauf, genügend Pausen einzulegen, um sich die Natürlichkeit ihrer Kunst zu bewahren, sie mit Alltagsmomenten und -gesprächen aufzulockern, die die Musik mit Leben erfüllen und das Leben mit Musik, bis beides zu einem Ganzen verschmilzt.
Aus der Nähe betrachtet, ist die Pianistin nicht um ihren Alltag zu beneiden. Je nach Verfassung steht sie erst um vierzehn Uhr auf. Während sie ihre paar Tassen Kaffee trinkt, grummelt sie vor sich hin, weil die Kaffeemaschine schon wieder verkalkt ist oder irgendjemand vergessen hat, neue Kaffeekapseln zu kaufen, braucht ewig, um sich fertig zu machen, ist endlich, nach langem Hin und Her und zahlreichen Ablenkungen, angezogen, überlegt, ob sie sich die Haare waschen soll, beschwert sich, dass sie für nichts Zeit hat, und telefoniert so lange mit irgendwelchen Leuten, bis es Abend ist. Dann geht sie für ein paar Schritte aus dem Haus, spaziert durch ihr Viertel, um etwas zu essen einzukaufen, knabbert ein wenig daran herum
Weitere Kostenlose Bücher