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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: CHRISTINE GRÄN
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schon berührt, und natürlich bringt sie es nicht übers Herz, Lily zu wecken. Sie holt eine Decke aus dem Schlafzimmer und legt sie über Lilys Füße. Füße müssen immer warm sein. Mutter-Worte. Lily hat ihre nicht erwähnt. Vielleicht gab es sie nicht, nur den schrecklichen Vater. Und nun hat sie in Harry einen Ersatz gefunden, und Anna soll ihn suchen. Es ist lächerlich, sie hat nicht die geringste Ahnung, wo sie beginnen könnte.
    Weshalb sie die Milch mit dem Honig trinkt, im Badezimmer. Es ist die Medizin ihrer Kindheit, und sie steht vor dem Spiegel und sagt sich, dass sie erwachsen ist. Niemand mehr da, der sie beschützen und trösten könnte. Alle sind schon damit überfordert, Verantwortung für nur ein Leben zu tragen. Lily besonders. Anna auch. Fast alle, die sie kennt. Wenn wir nicht klar sehen können, wollen wir wenigstens die Unklarheiten scharf sehen. Sigmund Freud, der geniale Wiener Kokser.
    Klar ist an diesem Fall nur, dass niemand die ganze Wahrheit sagt. Lily lügt möglicherweise, um Harry zu schützen. Hanni Pelzer denkt an Strategeme und Anna daran, dass sie ein wunderbares Motiv hätte: Geld. So wie Jacob Lenz, der Rosi Starks Begabung der subtilen Erpressung so gar nicht beherrscht. Benno Mackeroth, der sich von seiner furchtbaren Gönnerin vielleicht befreien wollte.
    Oliver Lindemann und Gustav Brock, die auch mit von der Mörderpartie waren, hat Anna bisher vollkommen ignoriert. Theoretisch und vermutlich auch praktisch mit demselben Motiv wie Mackeroth: Es bestanden Abhängigkeiten, die Rosi für ihre Zwecke nutzte. Vorstellbar, dass sie willig mitmachten, weil ein Beamter und ein Programmdirektor ein bisschen Glanz in ihrem Leben brauchen, Brot und Spiele und natürlich auch Sex. Nein, solche Leute entfremden keine Klobürste, dazu sind sie zu feige. Die Wahl der Waffe ist gewissermaßen künstlerisch, innovativ. Dazu braucht man Fantasie. Nicht notwendigerweise den Willen zu töten. Vielleicht war es nur ein Augenblick der Unbeherrschtheit, der Versuch, sie zu verletzen, zu demütigen. Und dies alles spricht für Harry, der den Weg des Schweigens gewählt hat. Dass er Lilys Angebot, ihm ein Alibi zu geben, kategorisch ablehnt: Spricht das nun für oder gegen seine Unschuld?
    Der Honig klebt an Annas Zähnen, und sie reinigt sie mit der wilden Entschlossenheit eines Menschen, der Zahnärzte fürchtet wie die Pest. Während sie den Mund weit aufreißt, denkt sie an Marilyns strahlendes Gebiss. Die beiden Mädchen waren nicht betrunken wie die anderen am Tisch. Sie haben, abgesehen von ihrer Angst vor der Abschiebung, keinen Grund zu lügen. Und doch hatte Anna das Gefühl, dass Marilyn ihr etwas verschwieg. Sie wird Fjodor nach Marilyns Handynummer fragen. Am liebsten würde sie es gleich tun, doch wenn er nicht singt, wird er schlafen.
    Auf dem Weg ins Schlafzimmer sieht sie noch einmal nach Lily, die in der Fötusstellung schläft. Ihr Mund ist leicht geöffnet, und sie atmet schwer, als ob sie von Albträumen gequält würde. Anna kann dem Impuls nicht widerstehen, über die weiße Kopfhaut zu streicheln. So verletzlich… dann löscht sie das Licht und irrt im Dunkeln zur Tür.
    Sie kollidiert mit dem Schirmständer, alle Dinge stehen ihr im Weg, als ob sie sich gegen Anna Marx verschworen hätten. Sie flucht verhalten, im Flüsterton, und findet den Lichtschalter im Flur. Dort sollte er stehen, der Schirmständer, doch die ukrainische Putzfrau hat ihre eigene Vorstellung von der Platzierung von Gegenständen. Diskussionen zu diesem Thema sind fruchtlos und enden stets mit dem Satz »Nix verstehen«.
    Wir wollen wenigstens die Unklarheiten scharf sehen, murmelt Anna in ihrem Bett, das zu groß für eine Person ist. Als sie es anschaffte, dachte sie noch… was immer es war, es war falsch. Sind Frauen klüger als Männer, weil sie weniger wissen und mehr verstehen?

16. Kapitel
     
     
     
    »Sie sah aus wie ein Engel, als sie da runterfiel. Die langen blonden Haare, wissen Sie…«
    Die Augenzeugin weist mit dem Finger himmelwärts, und die Kamera folgt der Richtung ihrer Hand zu einem Hochhaus an der Karl-Marx-Allee. Es gibt nichts zu sehen, nur die Plattenbaufassade mit den kleinen Balkons, eher Austritte, auf denen Menschen stehen, die nach unten blicken, auf die blinkenden Lichter der Polizeiautos und Notarztwagen. Einige winken nach unten.
    Die Gaffer auf der Straße werden von Uniformierten daran gehindert, über den Schauplatz der Tragödie zu trampeln. Kameraleute und

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