Maschinenmann: Roman (German Edition)
gedacht. Aber wie schon erwähnt, sie waren etwas übermütig. Schon im nächsten Moment bewegten sie sich so schnell, dass ich mich am Eimersitz festklammern musste. »Whoa«, entfuhr es mir. Wie ein Rugbyspieler stürzte sich Carl auf mich. Die Contours wichen ihm aus und trampelten durchs Foyer. »Dr. Neumann!«, rief Carl. »Stopp!« Seine Stimme hallte von den Glasscheiben der Eingangshalle wider. Es klang ein wenig beängstigend, und vielleicht war das der Grund, warum die Contours zu laufen anfingen. Mit Kolbenkraft preschten sie auf die Eingangstür zu. Diese öffnete sich nicht rechtzeitig, und die Kollisionserkennungssoftware brachte mich so plötzlich zum Stehen, dass ich mit der Stirn gegen das Rauchglas knallte. Es tat weh. Das musste ich noch verbessern. Dann wurde der Spalt zwischen den Türen größer, und die Contours stürmten hinaus.
Ich saß auf einem Presslufthammer. Bei jedem Schritt streckte sich mein Hals, und der Kopf drohte abzureißen. Wenn die Hufe wieder nach unten krachten, prallte mein Kinn so hart auf die Brust, dass mir fast die Zähne splitterten. Durch tränentrübe Augen erkannte ich eine sich rasch nähernde Straße und dachte: Bitte, sie sollen anhalten. Aber sie hielten nicht an, sondern rannten direkt in den Verkehr. Hektisch fummelte ich nach dem Notausschalter und griff daneben. Das war wahrscheinlich mein Glück, denn im Nachhinein betrachtet wäre es sicher keine so gute Idee gewesen, knapp vor entgegenkommenden Autos die Stromzufuhr abzuwürgen. Eine Limousine fegte so dicht an mir vorbei, dass der Fahrtwind an meinem Haar riss. Ein haushoher Sattelschlepper hupte gellend. Ich hörte einen markerschütternden Schrei und merkte, dass er von mir kam. Dann spürte ich tief im Inneren der Contours ein Klicken. Sie stoppten. Direkt vor einem heranrollenden Lastwagen. Das war der sichere Tod. Gleich würde ich erfahren, warum es unklug war, Feldversuche mit einem neuen Gerät zu machen, an dem man festgeschnallt war. Der Lastwagen würde mich niederwalzen, und der Fahrer würde hinterher auf eine lange Blutschliere stoßen, die bis zu einem blinkenden Paar perfekter Titanbeine führte. Die endgültige Rechtfertigung meiner Arbeit. Der Beweis für die Überlegenheit künstlicher Körperteile und für die Notwendigkeit umfangreicher Tests zur Vermeidung von Pannen.
Dann beugten sich die Beine und sprangen. Der Verkehr und die Straße schrumpften, bis sie weit weg waren. Ich ließ den Sitz los und ruderte mit den Armen. Entweder wollte ich die Luft umklammern oder fliegen. Dann ließ der Aufwärtsantrieb nach. Einen winzigen Augenblick lang schwebte ich zwanzig Meter über dem Boden, ohne zu steigen oder zu fallen. Irgendwie schön. Doch schon wurde die Welt wieder größer und gefährlicher. Mein Gehirn errechnete eine Endgeschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern. Mit diesem Tempo würde ich auf dem Boden aufschlagen.
Unten gafften eine Frau und ihr Sohn zu mir herauf. Sie standen genau an der Stelle, wo sich meine Flugbahn mit dem Gehsteig schnitt. Ein schrecklicher Zufall. Dann wurde mir klar, dass es kein Zufall war, sondern kalkuliert. Diese Menschen waren eine Polsterung. Gegenstände, die den Aufprallschock abfangen sollten. Ich hatte die Beine so programmiert, dass sie Zusammenstöße auf horizontaler Ebene vermieden, aber alles, was unter ihnen lag, ordneten sie als Boden ein. Eine Annahme, die mir unter Laborbedingungen vernünftig erschienen war.
Die Mutter riss am Arm ihres Sohnes. Er war kein Knirps mehr. Auf Supermarktgängen und Parkplätzen hatte ich schon öfter erlebt, wie Frauen mit Kindern in diesem Alter rangen, und normalerweise rührten sich die Kleinen keinen Zentimeter vom Fleck. Doch anscheinend konnte ein vom Himmel stürzender Mann einen heftigen Adrenalinstoß in Müttern auslösen, denn der Junge flog durch die Luft, als wäre er hohl. Zwanzig Zentimeter entfernt landete ich auf dem Gehsteig. Unter meinen Hufen zersprang der Beton. Staub wirbelte in die Luft. Mein Rückgrat verbog sich auf eine Weise, die sich sehr, sehr schlecht anfühlte. Bevor es mir den Atem verschlug, saugte ich eine Lunge voll Betonstaub ein. Unter mir spürte ich die Contours, bereit loszurennen. Ich wollte sie auffordern, kurz zu warten, damit ich mich bei der Mutter entschuldigen und mich vergewissern konnte, dass ihr und ihrem Sohn und auch mir nichts passiert war. Doch den Beinen war das egal. Ihre Welt war definiert durch Standort, Ziel und die optimale Strecke
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