Maschinenmann: Roman (German Edition)
von einem Paar erwarten, dass es verheiratet bleibt, wenn von den Leuten, die sich das Jawort gegeben haben, kaum noch ein Molekül übrig ist? Ich glaube nicht. Ich weiß, so einfach ist es nicht, trotzdem tendiere ich in diese Richtung.«
Schweigen. Ich war vom Thema abgeschweift. »Ich denke, näher kommen wir nicht ran«, bemerkte Jason. »Probieren wir es mal mit Sehnsucht.«
»Da.« Jason deutete auf seinen Monitor. Seit sechs Stunden bildete er mein Gehirn ab. Im abgedunkelten Beobachtungsraum waren seine Augen wie Löcher. »Aktivität im ventromedialen präfrontalen Cortex. Stark lokalisiert.«
Ich war gerade beim Verdrahten mit den Contours. Es war schon einige Zeit her, dass ich das zuletzt gemacht hatte. Es tat weh, aber nicht auf vollkommen unangenehme Weise. »Schuldgefühle?«
»Ja.« Jason blätterte nach unten. »Nach Krajbich u. a. sind Patienten mit einer Schädigung des VMPFC nachweislich weniger empfänglich für Schuldgefühle. Normale Menschen haben einen Schuldquotienten von zweihundert. Menschen mit einer VMPFC -Störung kommen im Schnitt auf siebenundzwanzig. Das heißt, im Vergleich zur Norm sind ihre Schuldgefühle sehr geringfügig.«
Ich aktivierte die Contours. In meinen Metallbeinen breitete sich Empfindung aus. Ich würde nicht behaupten, dass es sich lohnte, dafür beide Beine zu verlieren, aber es war auf jeden Fall angenehm. »Interessant.«
»Bei allen anderen messbaren Emotionen haben die beiden Gruppen gleich abgeschnitten. Oh. Warten Sie.« Er fixierte den Bildschirm. »Neid ist gestiegen.«
»Neid?«
»Eigentlich liegt der Wert noch innerhalb der Fehlertoleranz. Hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten.«
»Wenn mein VMPFC unterdrückt würde, hätte ich also weniger Schuldgefühle, wäre aber ansonsten der Gleiche.«
»Viel weniger Schuldgefühle.«
»Genau, viel weniger Schuldgefühle.«
»Und/oder Bedauern. Beides hat im VMPFC aufgeleuchtet.«
Ich überlegte. »Gibt es einen Unterschied zwischen Schuldgefühlen und Bedauern?«
Jason machte ein ratloses Gesicht. »Ich … glaube nicht.«
»Ein Unterschied könnte …« Ich schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht drauf.«
»Emotionen sind nicht unbedingt mein … Fachgebiet.«
»Nehmen wir einfach an, dass es das Gleiche ist.«
»Okay.« Er wandte sich dem Monitor zu. »Ich weiß allerdings nicht, wie man den VMPFC unterdrücken soll. Ich meine … ohne ihn einfach herauszuschneiden.«
Verlegene Stille entstand. Ich hatte vor Jasons Augen mein rechtes Bein zerquetscht. Er hatte versucht, mich davon abzuhalten. Möglicherweise trug er noch immer einen ungeklärten Groll mit sich herum. »Ich denke, das wäre ein ziemlich drastischer Schritt.«
»Irreversibel.«
»Aber bedauern würde ich ihn nicht.« Ich hatte mir einen Witz erlaubt, den Jason mit leerem Starren quittierte. »Weil der ventromediale präfrontale Cortex ja nicht mehr richtig funktionieren würde.«
»Ach so.«
Ich setzte noch einmal anders an. »Das streben die Menschen doch an? Ein Leben ohne Bedauern. Zumindest hört man das immer.«
»Aber damit ist gemeint, dass man etwas wagen soll. Risiken eingehen. Und nicht, dass man sich die Fähigkeit zum Bedauern aus dem Gehirn rausschneidet.«
»Hmm«, machte ich. »Wahrscheinlich.«
»Das ist auch eine Sache, die mich hier wundert. Niemand sagt was von nicht sollen. Also dass man was Bestimmtes nicht tun soll. Sie erzählen einem, dass etwas unmöglich ist oder zu teuer. Aber nie falsch. Ich weiß, wir sind keine Philosophen, sondern Entwickler. Ich kenne unsere Leitlinien. Aber manchmal hätte ich auch gern was Schriftliches zu ethischen Grundsätzen. Ich stelle mir einen Weisen vor, der mir sagt, dass bestimmte Dinge nicht getan werden sollten, auch wenn sie möglich sind. Ist das dumm von mir? Wahrscheinlich liegt es an meinen Eltern. Sie sind Chinesen und haben mich sehr streng erzogen. Moralisch. Ich musste gegen sie ankämpfen. Doch jetzt, wo ich frei bin, treibe ich dahin, als hätte ich den Boden unter den Füßen verloren. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Eigentlich nicht.«
»Nein?«
»Ich kümmere mich nicht um Religion.«
»Dabei geht es nicht unbedingt um …«
»Jedenfalls …« Ich schnitt Jason das Wort ab, weil er sich in nutzlosen Spekulationen verlor. »Wie wär’s denn mit einem Helm? Feste Nadeln, die jeweils eine genau abgemessene Dosis Tetrodotoxin in verschiedene Gehirnbereiche injizieren können. Ein Knopfdruck und bamm, der VMPFC ist k. o.« Ich deutete auf den
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