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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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herzliche Aufnahme am Stammtisch im »Schwalbennest«. Nach der Wende wurde offenbar: während wir im Erdgeschoß und manchmal im ersten Stockwerk des »Kaffeebaums« munter schwatzten, wurden im dritten Stockwerk ganz spezielle Gespräche geführt … Die Hauptabteilung XVIII der Staatssicherheit unterhielt im historischen Haus eine konspirative Wohnung. So konnten sich deren Mitarbeiter in der dritten Etage von den Spitzeln erzählen lassen, worüber im Erdgeschoß geredet wurde. Ach ja, die Stasi, sie wußte so vieles, aber es hat ihr nichts genützt.
    Eine ganz besondere Studentenkneipe war das FDJ-Klubhaus Kalinin. Es befand sich im Erdgeschoß des Messehauses Dresdner Hof. Der Gebäudekomplex wurde nacheinem Lokal benannt, das sich schon im 17. Jahrhundert auf diesem Terrain befunden hatte. Vor dem Krieg residierte im Erdgeschoß das berühmte »Naumann-Bräu«. Ein Bier-, Speise- und Konzertlokal mit über 1000 Plätzen. In einer Ecke befand sich der legendäre Zeppelin-Stammtisch, über dem auch solch ein Fluggerät in Miniaturausgabe schwebte. Nun war aus dem »Naumann-Bräu« also die Mensa Kalinin geworden, fast jegliche Ausstattung dahin, die bemalten Deckenbalken ebenso wie die Täfelung überstrichen, die einstige Pracht nur noch an Holzeinbauten, einer Bühne und einer Galerie zu erkennen.
    Während in dem riesigen, faszinierend häßlichen Saal mittags die Einheitsverpflegung gegen Essenmarken erfolgte, konnte man abends bis 22 Uhr à la carte speisen. Mindestens 20 (!) numerierte Gerichte waren im Angebot, deren teuerstes (Gänsebraten u. ä.) kaum über drei Mark kostete. Die Nummer eins war immer marinierter Hering mit Kartoffeln für 95 Pfennige. Die Mensaplatte (verschiedene belegte Brote mit einem großen Schlag Kartoffelsalat) kam 1,25 Mark.
    Ich selbst nahm oft die Nummer 4, Beefsteak mit einem Spiegelei und Bratkartoffeln. Es gab auch für 85 Pfennige Bratkartoffeln mit Bohnen. Die Nummern leuchteten jeweils über der Theke, und wenn ein Gericht »aus« war, erlosch das Licht der entsprechenden Zahl.
    Ein Sammelsurium von meist älteren Kellnern – allesamt Originale – bediente. Einer sah aus wie Fernandel und mochte es nicht, wenn man nach ihm rief. »Halts Maul, sonst krichste gar nischt!« bellte er dann zurück. Wenn er aber ein Bier spendiert bekam, hellte sich sein runzliges Gesicht auf: »Aber gern, Herr Doktor.« Und bei einem Schnaps avancierte der Gast unverzüglich zum Professor.
    Ich besuchte einmal mit meinem Zwickauer Cousin Heiner den ständig überfüllten Saal. Der Mann mit dem Fernandel-Gesicht, längst Rentner, wurde nur »Charlie« von uns genannt, weil er tatsächlich wie Charlie Chaplin durch die Gegend watschelte. Er nahm unsere Bestellung zwar auf, knurrte aber unablässig, daß die Küche völlig überfordertwäre, völlig überfordert. Mein Cousin meinte: »Ich glaube nicht, daß wir hier demnächst etwas bekommen.« Ich kannte aber die Art des Mannes, und nach relativ kurzer Zeit stand unser Essen auf dem Tisch. »Charlie« war ein großer Fan von Pferderennen und gab gegen ein Bier auch mal einen Wett-Tip preis.
    Sonnabends war Tanz und ein unvorstellbares Gedränge. Eine spezielle Ordnungstruppe, hünenhafte Sportstudenten, versuchte das Gröbste an handgreiflichen Auseinandersetzungen um Bräute, Bier oder auch nur Einlaß zu verhindern. Wenn aber regelrechte Saalschlachten zwischen verschiedenen Volksgruppen ausbrachen und Aschenbecher und Biergläser durch die Gegend flogen, zogen auch sie sich zurück. Die notfalls herbeigerufene Hundestaffel der VP begnügte sich meist damit, am Eingang den Verlauf der Kampfhandlungen zu verfolgen; auf der Galerie saßen derweil an der kleinen Bar die Sprößlinge reicher Eltern und spendierten ihren Angebeteten ein Glas Sekt zu 1,20 Mark.
    Die einzige, die sich mitunter todesmutig zwischen die streitenden Parteien warf, war die Leiterin des Klubhauses, Lucie Hahn. Sie soll vor dem Krieg als Chansonette durch diverse Tingel-Tangel-Lokale Leipzigs gezogen sein und leitete nun – welch Wandel – ein FDJ-Klubhaus.
    Drei benachbarte Gassen frequentierten wir im Laufe unserer Zechtouren. Wir saßen bis zum frühen Abend im Café Corso im Gewandgäßchen, dann ging es in die Mensa Kalinin in der Kupfergasse zum Abendbrot und nach der entsprechenden Stärkung in die Magazingasse ins »Schwalbennest«, Endstation des Abends.
    Das »Nest« – was war das für eine herrliche Kneipe! Über einer zweiflügligen Schwingtür stand

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